"Erlebnispädagogik": Stimmen zur Rekonstruktion der Kämpfe um den Tschechischen Rundfunk im Mai 1945

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Am Donnerstag und Samstag dieser Woche verwandelte sich die nahe Umgebung des Tschechischen Rundfunks in Prag und zum Teil auch das Haus selbst in einen Kampfplatz. Im Beisein von einigen Tausend Zuschauern spielten sich hier eine Stunde lang in nachgestellter Form die Kämpfe ab, die während des Maiaufstandes 1945 von großer Bedeutung waren. Es waren jedoch nicht die einzigen nachgestellten Kampfhandlungen im laufe der diesjährigen Gedenkfeierlichkeiten. Gehören solche Veranstaltungen einigermaßen zur tschechischen Erinnerungskultur? Dieser Frage geht Silja Schultheis im folgenden Beitrag nach:

Gedenken an 60 Jahre Kriegsende in Prag. Vor dem Gebäude des Tschechischen Rundfunks (oberhalb des Wenzelsplatzes) haben sich mehrere hundert Menschen versammelt, um die Kämpfe um das Rundfunkgebäude anzusehen. Für die meisten von ihnen waren Szenen, wie sie jetzt hier nachgestellt werden, einst bittere Wirklichkeit. Zum Beispiel für diesen Zeitzeugen:

Ich persönlich habe das Kriegsende auf den Barrikaden im Süden Prags erlebt. Mir sind solche Kämpfe nicht fremd, ich empfinde das als normal. Es ist gut, dass durch diese nachgestellten Schlachten auch die junge Generation daran erinnert wird, wie das in Wirklichkeit aussah. Auch wenn die Toten hier nur gespielt sind, während unsere Kameraden damals wirklich sterben mussten.

Der «Prager Aufstand» war der blutigste Kampf des Zweiten Weltkriegs im besetzten Prag. Schätzungen zufolge kamen bei den viertägigen Kämpfen mehr als 1700 Tschechen, 1000 Deutsche und 400 Russen ums Leben. Auch Tschechen in anderen Landesteilen erlebten die Ereignisse über den Rundfunk quasi hautnah mit - wie etwa diese ältere Dame, die damals ein junges Mädchen war:

"Das war schrecklich 1945, das war wirklich schlimm für alle Prager. Ich selber komme nicht aus Prag, ich war 1945 nicht hier. Aber mein Bruder hat hier gekämpft. Wir haben das im Radio gehört und haben alle geweint. Ich denke, wenigstens für die jungen Menschen ist eine solche Nachstellung der Kämpfe gut, damit sie sehen, wie schrecklich das damals war."

Eben die junge Generation ist - neben den Veteranen - auch die Hauptzielgruppe für die neuinszenierten Kämpfe um das Rundfunkgebäude. Aleksandr Picha, Intendant des ersten Programms beim Tschechischen Rundfunk (Radiozurnal) und Initiator des Projekts:

Einer der Hauptgründe ist der, dass wir den Kindern zeigen wollen, was ihre Eltern oder Großeltern bereit waren, für die Freiheit zu tun. Nachdem die Geschichte des Prager Aufstandes jahrzehntelang durch die Kommunisten instrumentalisiert wurde, bekommt die junge Generation durch das, was sie in der Schule und aus Dokumentarfilmen erfährt, jetzt ein wirklichkeitsgetreues Bild der Vergangenheit - mit allem, was dazu gehört.

Und dazu gehört eben auch die Rekonstruktion einzelner Schlachten - ein Zugang zur Geschichte übrigens, der in Tschechien sehr beliebt ist. Aus pädagogischer Sicht sei ein erneutes Durchleben historischer Ereignisse durchaus nützlich, meint der Geschichtslehrer Jaroslav Tulka vom Prager Gymnasium na Prazacce. Jedoch dürfe man es bei Erlebnispädagogik allein nicht bewenden lassen:

"Die Menschen werden heute mit Fakten zugeschüttet, die für sich genommen nichts sagend sind. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Schülern die Zusammenhänge einer Epoche zu vermitteln - nicht wie viele Schlachten und Könige es gab, sondern warum z.B. ein Ereignis wie der Zweite Weltkrieg überhaupt möglich war."

Seine Schüler aus der 10. Klasse sind sich nicht einig über die Frage, ob die nachgestellten Kämpfe wichtig sind für ein besseres Geschichtsverständnis:

"Ich interessiere mich nicht so für Kämpfe"

"Ich möchte etwas darüber erfahren und im Geschichtsunterricht lernen wir noch nichts zu diesem Thema, da lernen wir gerade etwas über Napoleon."

"Ich glaube, dass das eine gute Idee ist um das zu erinnern, den Zweiten Weltkrieg allgemein."

"Mir reicht es, das im Fernsehen zu sehen."

Rekonstruierte Schlachten und Kämpfe gibt es in Prag in diesen Tagen übrigens nicht nur vor dem Rundfunkgebäude. Das Programm ähnlicher Veranstaltungen ist lang: nahezu jeder Stadtteil erinnert auf diese Weise an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine Art des Gedenkens, die einen als Deutschen vielleicht ein wenig befremden mag. Die aber, so viel steht fest, wichtiger Bestandteil der tschechischen Erinnerungskultur ist.

Foto: Stepanka Budkova