Erstes tschechisches Kinderfürsorgezentrum – Aufnahmestelle für Opfer häuslicher Gewalt

Befragungszimmer

Seit Mitte September ist in Prag das erste Child Advocacy Centre Tschechiens für den Pilotbetrieb geöffnet. Die Einrichtung wird vom Arbeitsministerium finanziert. Sie soll als Erstaufnahmestelle für Kinder dienen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.

Der Arbeitsplatz, auf den Magdaléna Černá deutet, sieht aus wie aus einem Agentenfilm. Mehrere Bildschirme zeigen ein Befragungszimmer, das von zwei 360-Grad-Kameras gefilmt wird. Ein Raummikrofon nimmt zudem jedes Geräusch auf. Das alles soll sicherstellen, dass die Schilderungen eines Kindes, das Gewalt im familiären Umfeld erlebt hat, bis ins kleinste Detail erfasst wird. Auch die Gesten und geflüsterten Worte. Das Befragungszimmer ist der zentrale Ort für die Arbeit des Kinderfürsorgezentrums der NGO Centrum Locika, das im vergangenen Monat seine Türen im Prager Stadtteil Holešovice öffnete. Das Zentrum ist eine Erstanlaufstelle für Kinder, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Hier sollen nun alle Behörden an einem Ort zusammenarbeiten. Das sei wichtig, damit ein Kind sein Trauma nicht immer wieder aufs Neue nacherzählen müsse, sagt die Pressesprecherin des Centrum Locika, Magdaléna Černá:

„Wir haben bei einem unserer Klienten nachgezählt und festgestellt, dass das Kind sein Gewalterlebnis 15 Mal nacherzählen musste. Mit ihm haben dabei fast 40 Leute gesprochen, immer wieder über den gleichen Vorfall. Das Ganze dauerte dann zwei bis drei Jahre und das Opfer hatte keine Chance, das Erlebte hinter sich zu lassen.“

Magdaléna Černá | Foto: Centrum Locika

Diese ständige Retraumatisierung will man durch die Arbeit im Zentrum vermeiden. Im Gebäude des Kindefürsorgezentrums kommen Psychologen, Sozialarbeiter, Polizisten und Anwälte zusammen. Normalerweise müssten sie alle aufwendig per Post oder E-Mail miteinander kommunizieren. Hier sitzen alle Parteien oft persönlich an einem Tisch und können informelle Gespräche führen. Außerdem werden die technischen Mittel für eine schnelle Kommunikation über das Internet bereitgestellt. So kann beispielsweise ein Videotelefonat zwischen Polizei und Sozialarbeitern stattfinden, während beide Parteien Zugriff auf den präzisen Mitschnitt der Aussagen haben. Warum das alles wichtig ist, erläutert Simona Dejdarová, die Leiterin der Einrichtung:

„Wir haben von den Mitgliedern unseres multidisziplinären Teams das Feedback bekommen, dass diese Form der Zusammenarbeit für sie vieles vereinfacht. Es findet ein ständiger Austausch statt. Dabei können Entscheidungen über weitere Hilfe für das Kind schneller und nachhaltiger getroffen werden. Nachhaltig deshalb, weil sie sich nicht nur auf schriftliche Berichte beziehen, sondern in Zusammenarbeit mit den Kollegen zustande kommen.“

Sicheres Umfeld für betroffene Familien

Auch für die Angehörigen der Kinder ist die Betreuung durch das multidisziplinäre Team von Vorteil.

„Das Feedback unserer Klienten ist auch sehr positiv. Von den Eltern hören wir, dass die Arbeit des Teams ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen gibt, für viele eine große Erleichterung. Das liegt daran, dass sie für Aussagen und Therapien immer nur an einen einzigen Ort kommen müssen und denselben Menschen begegnen. Für alle Beteiligten ist diese Art der Zusammenarbeit besser verständlich und weniger chaotisch“, so Dejdarová.

Außerdem gebe es im Kinderfürsorgezentrum während der Untersuchungen eine besondere Einzelbetreuung für die Kinder:

„Jedes Kind bekommt einen eigenen Betreuer, üblicherweise ist dieser ein Kinderpsychologe und Experte im Umgang mit häuslicher Gewalt. Dieser informiert das Kind darüber, was jetzt mit ihm geschieht, was es erlebt hat und was es während der Ermittlungen, des Strafverfahrens und der folgenden Therapie erwartet.“

Gleichzeitig steht ein Sozialarbeiter im Austausch mit dem Teil der Eltern, der nicht Ziel der Ermittlungen ist. Nach dieser Krisenintervention durch das Team wird dann festgestellt, ob das traumatisierte Kind eine Langzeittherapie benötigt. Diese findet auch im Gebäude der Einrichtung statt. Magdaléna Černá zeigt das Therapiezimmer: In der Mitte des Raumes steht eine kleine Sandkiste, die aussieht wie ein Zen-Garten. In einem Holzregal daneben ist ein großes Arsenal an Spielfiguren zu sehen: Playmobil-Ritter, Schleich-Tiere und Puppenhäuser. Kinder können mit diesen Hilfsmitteln Situationen nachbilden, für die sie im Gespräch keine Worte finden.

Die Therapie kann mehrere Monate in Anspruch nehmen und der Bedarf ist hoch. Laut dem Centrum Locika berichten 14 Prozent der tschechischen Kinder, irgendwann schon einmal schwere physische Gewalt erlebt zu haben. Simona Dejdarová ordnet die Zahl ein:

„Die Tschechische Republik ist in diesem Bereich keine Ausnahme, die Zahlen sind mit dem Rest Europas vergleichbar. Bei der Bewertung der Statistik geht es hauptsächlich darum, welcher Anteil der häuslichen Gewalt sich tatsächlich registrieren und ermitteln lässt. Während der Pandemie und der damit verbunden Lockdowns hat die häusliche Gewalt einerseits stark zugenommen. Andererseits könnte das daran liegen, dass wir neue Möglichkeiten gefunden haben, sie aufzudecken. So bieten wir neuerdings einen Online-Chat an, in dem sich Kinder an uns wenden können.“

Pandemie hat Umfang der Gewalt gezeigt

Lenka Kvapilová und Simona Dejdarová aus Locika | Foto: Centrum Locika

Dejdarová sagt, die Pandemie habe den Stein erst ins Rollen gebracht. Schon zuvor habe es viel häusliche Gewalt gegeben, man habe nur nicht über die Mittel verfügt, sie sichtbar zu machen.

Das Modell des Kinderfürsorgezentrums ist für Tschechien zwar neu, aber anderswo in der EU schon seit längerem bekannt.

„Das Zentrum in Prag wurde auf Basis eines Modells gegründet, das im ganzen Rest von Europa verbreitet ist: das sogenannte ‚Barnahus'. Wir sind daher auch Teil eines europaweiten Netzwerkes und haben viele unserer Kompetenzen von den anderen Häusern übernommen. Die Zusammenarbeit wird auch in Zukunft fortgesetzt“, erläutert Simona Dejdarová.

Die Idee des „Barnahus“ kommt ursprünglich aus Island. Übersetzt heißt das Wort „Kinderhaus“. In 20 Ländern Europas gibt es solche Einrichtungen, das Kinderhaus in Prag ist das erste in Tschechien. Aktuell betreut die Einrichtung zwei Kinder, im nächsten Jahr sollen es schon bis zu 70 sein. Aktuell wird noch an wichtigen organisatorischen Details gearbeitet. So will man einige Verträge mit Behörden aufsetzen. Auf diese Weise soll ein neuer polizeilicher Bereitschaftsdienst ermöglicht werden, der die Arbeit des Kinderfürsorgezentrums rund um die Uhr unterstützt.

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Autor: Leon Iselt
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