„Es gab zwei Verhandlungsebenen“ - Historiker Kunštát zum Nachbarschaftsvertrag

Foto: Tschechisches Fernsehen

Die häufig zitierte und erwähnte Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 war nicht der Anfang. Fünf Jahre früher wurde bereits der Deutsch-Tschechoslowakische Vertrag über gute Nachbarschaft unterzeichnet. 20 Jahre sind vergangen, seitdem Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher sowie Staatspräsident Havel und Außenminister Dienstbier ihre Unterschriften unter den Vertrag gesetzt haben. Die tschechisch-deutsche Aussöhnung ist Fachgebiet des Historikers Miroslav Kunštát von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, ab 1993 hat er auch Staatspräsident Václav Havel in diesen Fragen beraten.

Miroslav Kunštát  (Foto: Archiv der Waldviertel-Akademie)
Herr Kunštát, der Deutsch-tschechische Nachbarschaftsvertrag ist am 27. Februar 20 Jahre alt geworden. Wie schwierig waren denn die Verhandlungen über den Vertrag und warum wurde er fast ein Jahr später als der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet?

„Das ist eine sehr interessante Frage. Auch die Verhandlungen mit Polen waren nicht die einfachsten. Es gab meines Erachtens von Anfang an jeweils unterschiedliche Zielvorstellungen, wie solch ein Vertrag aussehen sollte. Auf der deutschen Seite dachte man, soweit wir den ersten deutschen Vertragsvorschlag mit dem tschechoslowakischen vergleichen können, an einen in erster Linie zukunftsorientierten Vertrag. In diesem sollten die Fragen der Vergangenheit möglichst breit ausgeklammert werden – mit Ausnahme einer sehr kurzen die Geschichte wertenden Präambel. Auf der tschechoslowakischen Seite herrschte eher die Vorstellung, dass dieser Vertrag vor allem einen Schlussstrich unter die unselige gemeinsame Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen sollte. Diese zwei unterschiedlichen Prioritäten führten auch dazu, dass ein Kompromisstext entstehen musste und die Fragen der Vergangenheit etwas ausführlicher behandelt werden mussten als im deutschen Entwurf. Das erwies sich aber nicht immer als einfach. Und je länger die Verhandlungen dauerten, desto breiter wurde der Spielraum für verschiedene Lobby-Gruppen, und es kam zu Ungereimtheiten in den Regierungskoalitionen beider Länder. Die Folge waren Verzögerung sowohl bei den Verhandlungen über den Vertragstext, als auch bei der Unterzeichnung des Dokuments und seiner Ratifizierung.“

Gab es auf tschechoslowakischer Seite damals Gegner des Vertrags?

„Der Gedanke selbst, dass man mit dem wiedervereinigten Deutschland einen Grundvertrag vereinbaren sollte, dafür gab es meiner Meinung nach auch in der Tschechoslowakei einen breiten Konsens. Dieser Konsens herrschte auch in der tschechoslowakischen Regierungskoalition vor. Erst im Jahr 1991, und das hing mit den Aufsplitterungstendenzen im Bürgerforum zusammen, gab es hierzulande immer mehr Räume, um gewisse Unterschiede zum Ausdruck zu bringen. Nicht zufälligerweise zeigte der damalige Finanzminister und Vizepremier Václav Klaus kurz nach der Gründung der Demokratischen Bürgerpartei ODS eine gewisse Distanz zu den vorläufigen Ergebnissen der damaligen Vertragsverhandlungen. Das waren die Ergebnisse, die vom Außenminister und anderen Vizepremier Jiří Dienstbier mitgetragen wurden. Da waren dann schon die Zwistigkeiten der späteren Zeit zu spüren. Je näher der Termin der Parlamentswahlen im Mai 1992 rückte, desto mehr wurde der Vertragstext, der im Herbst 1991 bereits veröffentlicht worden war, zum Gegenstand der öffentlichen Debatte. Und es gab viele Gegner, zum Beispiel bei den tschechoslowakischen Sozialdemokraten, die damals einen kleine, überschaubare Fraktion in der Föderalversammlung bildeten.“

Helmut Kohl und Václav Havel haben ihre Unterschriften unter den Vertrag gesetzt  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Fünf Jahre nach dem Nachbarschaftsvertrag wurde die Deutsch-tschechische Erklärung unterzeichnet. Wenn man die beiden Dokumente vergleicht: Lässt sich sagen, welches von beiden das wichtigere Dokument gewesen ist?

„Eigentlich ist diese Frage in diesem Fall nicht gut gestellt. Die beiden Abkommen ergänzen sich natürlich, aber die Deutsch-Tschechische Erklärung ist, würde ich sagen, ein Bonus. Ein solches Dokument besteht zum Beispiel nicht zwischen Deutschen und Polen. Wenn man sich in die Deutsch-Tschechische Erklärung vom Jahre 1997 einliest, dann erkennt man sehr ausführliche Kapitel, die die Geschichte werten, und einen zwar sehr schwer erzielten, aber doch interessanten Konsens über die Grundprobleme des Verhältnisses. Es bleibt aber nicht nur bei diesem Konsens, sondern es werden auch konkrete Maßnahmen und Mechanismen vorgeschlagen, wie diese gemeinsame historische Erfahrung in positive Schritte umgesetzt werden kann: die Schaffung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und weitere Dinge. Es erfolgte eine sehr schnelle und, meines Erachtens nach, positiv wahrgenommene Entschädigung der NS-Opfer. Aber nicht nur das. Die Erklärung ist nicht der Schlusspunkt hinter der Geschichte, wie viele meinen. Die Unterhändler haben sie vielmehr als Doppelpunkt entworfen – in dem Sinn, dass jetzt neue Freiräume für Debatten aller Art, aber auch für eine neue Qualität der Beziehungen entstehen. Deshalb finde ich es richtig, wenn heute viele Menschen sagen: Die Deutsch-Tschechische Erklärung ist eigentlich das Dokument, das uns heute verbindet und auf das wir uns berufen.“

Dieter Kastrup
Gab es denn schon damals bei der Aushandlung des Nachbarschaftsvertrags gewisse Andeutungen, dass nachgelegt werden muss, weil ja der Bereich Vergangenheitsbewältigung nur angedeutet wird?

„Es gab eine offizielle Verhandlungsebene: der stellvertretende tschechoslowakische Außenminister Matějka und der Botschafter Höynck auf der deutschen Seite. Aber es gab auch eine zweite Ebene für die ganz sensiblen Themen. Das waren der Staatssekretär Dieter Kastrup und der tschechische Botschafter Jiří Gruša. Und auf dieser zweiten Ebene wurde über die flankierenden Maßnahmen gesprochen, die diesem Vertrag folgen sollten. Das war erstens auch eine Geste gegenüber den Sudetendeutschen. Auf der anderen Seite gab es auch einen großen Wunsch von tschechischer Seite, die Opfer des Holocaust und des Nationalsozialismus, insbesondere die KZ-Opfer zu entschädigen. Das war schon deshalb für die Tschechoslowakei sehr wichtig, weil eine ähnliche Stiftung, also ein Entschädigungsfonds, schon mit Polen beziehungsweise mit den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion entstand. Mit der Tschechoslowakei geschah das nicht, was natürlich unangenehm für die tschechoslowakische Regierung war. Die beiden Außenminister Dienstbier und Genscher haben sich jedenfalls verabredet, dass ein Sondervertrag, der diese Entschädigungsfrage lösen sollte, noch im Nachhinein abgeschlossen werden müsste. Wie Sie wissen, kam es dann zum Rücktritt Genschers als Außenminister, und die Tschechoslowakei existierte nicht mehr. In dieser neuen Konstellation mussten diese Fragen wieder neu angesprochen werden. Und die Lösung beziehungsweise die zeitweilige Nichtlösung der Wünsche führte dazu, dass dann 1995 die Idee kam, die Fragen der Vergangenheit in einem breiteren Kontext zu behandeln. Und das ist in der Deutsch-Tschechischen Erklärung auch der Fall gewesen. Also auch diese nicht gelösten Probleme, diese Schulden des alten Vertrags führten dazu, dass ein paar Jahre später die Deutsch-Tschechische Erklärung zur Welt kam.“

Autor: Till Janzer
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