Essaywettbewerb für Studierende: „Wie veränderte der russische Krieg gegen die Ukraine meine Welt?“

Die Frage nach den persönlichen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine wurde im 12. Europäischen Essaywettbewerb für Studierende gestellt. Die Initiatoren waren die Ackermann-Gemeinde und die Prager Bernard-Bolzano-Gesellschaft. Die Preisträger wurden Anfang April in Brno / Brünn bekanntgegeben.

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Wie veränderte der russische Krieg gegen die Ukraine meine Welt?“ So lautete das Thema des Europäischen Essaywettbewerbs für Studierende, der Ende vergangenen Jahres ausgelobt wurde. Anfang April fand in Brno / Brünn das Symposium „Dialog in der Mitte Europas“ statt. Die Veranstalter von der Ackermann-Gemeinde und der Bernard-Bolzano-Gesellschaft luden die Preisträger in die mährische Stadt ein. Die Gewinner präsentierten dort ihre Essays vor den Konferenzteilnehmern. Der Historiker Matěj Spurný ist Vorsitzender der Bernard-Bolzano-Gesellschaft. Hier ein Gespräch mit dem Historiker als einem der Initiatoren des Wettbewerbs.

Herr Spurný, wie viele Studierende nahmen diesmal am Europäischen Essaywettbewerb teil?

Matěj Spurný  (mitte) | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Es waren 27 Teilnehmer. Das war ein wenig mehr als in den Jahren zuvor. Die meisten stammten aus Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Es nahmen aber auch Essayisten aus Polen und der Ukraine teil.“

Jeder der Preisträger hatten seinen „Paten“. Auch Sie sind ein solcher Pate geworden. Wie werden bei dem Wettbewerb die besten Essays ausgesucht?

„Dieser Essay war wie ein Brief aus einem Krieg, der unweit von uns entfesselt wurde.“

„Die Jurymitglieder lesen alle Essays und kommen dann irgendwann zum Konsens, was die besten drei sind. Wenn die Autorinnen und Autoren die Essays auf der Brünner Konferenz vorlesen, teilen wir uns die Essays untereinander auf, sodass jeder von uns eine Autorin oder einen Autoren dazu befragt. Meine Fragen richteten sich an Iryna Rezvin aus der Ukraine, die den zweiten Preis gewonnen hat. Sie konnte verständlicherweise nicht persönlich nach Brünn kommen, sondern wurde per Video zugeschaltet. Ihr Text war sehr beeindruckend. Das Thema ,Wie veränderte der russische Krieg gegen die Ukraine meine Welt?‘ war für alle Beteiligten ein starkes Thema. Aber für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine war das doch etwas anderes als für die Essayisten aus anderen Ländern, weil der Krieg, wie auch Iryna Rezvin schrieb, ihr ganzes Leben komplett verändert hat. Sie schrieb: ,In einer Sekunde war mein ganzes Leben weg.‘ Dieser Essay – so charakterisierte ich es auch – war wie ein Brief aus einem Krieg, der unweit von uns entfesselt wurde. Es war sehr tragisch, das zu lesen, aber gleichzeitig war es ein sehr gut geschriebener Text. Ich habe die Autorin und auch den Text sehr bewundert. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir einmal Gelegenheit haben werden, mit Leuten wie ihr persönlich zusammenzutreffen und zu sprechen.“

Wissen Sie, wie Iryna Rezvin über den Wettbewerb erfuhr?

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Das lief über die Akademikerkreise. Wir machen regelmäßig Werbung an tschechischen, slowakischen und österreichischen Universitäten. Es gibt Studierende und Dozenten, die die Ausschreibung weiterleiten – je nachdem, welche Kontakte sie in Ostmitteleuropa haben. Ich denke, dass eines der Jurymitglieder, Oliver Herbst, diesmal sehr viel Arbeit bei der Weiterleitung der Ausschreibung leistete. Vermutlich haben wir es ihm zu verdanken, dass die Information auch Iryna Rezvin erreichte. Sie studiert Anglistik im Hauptfach, und im Nebenfach Germanistik.“

Ist der Gewinn des Wettbewerbs mit einem Preisgeld verbunden? Was bringt er noch mit sich?

„Das eine ist, dass die Preise dotiert sind – der zweite Preis, den Iryna Rezvin erhielt, konkret mit 300 Euro. Vielleicht wichtiger ist – gerade in diesem Fall – dass sie ihre Erfahrungen mit anderen Menschen als nur mit ihrer Familie und ihren Kommilitonen in der Ukraine teilen kann. Ich denke, für die Menschen in der Ukraine ist es wichtig, ihre tragischen Erlebnisse an die Welt weiterzugeben. Das habe ich auch gespürt, als Iryna zu uns gesprochen hat, als sie den Essay vorgelesen hat. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich darüber sehr freut, dass wir das, was sie erlebt hat, hören, dass wir sie fragen und ernstnehmen.“

„Ich bin stolz auf unsere ukrainische Armee, auf unseren Präsidenten, auf unsere Staatssymbole.“

Iryna Rezvin studiert an der Gogol-Universität in Nischyn. Sie hat sich während des Brünner Symposiums per Video zugeschaltet, um ihren Essay vorzulesen. Sie merkte in ihrem Beitrag unter anderem an, dass manch einer vielleicht denkt, es sei die beste Variante, das Land zu verlassen und auszureisen, denn nur so könne man sein Leben retten. Sie selbst habe allerdings nie solche Gedanken gehabt, schrieb sie. Die Ukraine sei für sie ihr Zuhause, ihre Heimat, ihre Mutter – und die Mutter lasse man nicht im Stich, betonte die Studentin. Für eine der Änderungen, die der russische Krieg verursachte, hält sie die Tatsache, dass sie nun erklären kann, was Patriotismus ist.

Iryna Rezvin | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Ich kann jetzt behaupten, dass die Ukraine für mich mehr ist als nur mein Geburtsort. Ich bin stolz auf unsere ukrainische Armee, auf unseren Präsidenten, auf unsere Staatssymbole. Wenn ich darüber spreche, dann sind das keine leeren Begriffe für mich.“


Andrej Lendóci | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Mit dem dritten Preis im Essaywettbewerb wurde der 20-jährige Andrej Lendóci bedacht. Nach der Preisverleihung entstand das folgende Gespräch mit dem Studenten:

Herr Lendóci, Sie stammen aus der Slowakei, studieren aber in Brünn. Welche Studienfächer genau belegen Sie?

„Als ich die Bilder von ukrainischen Städten vom ersten Tag des Kriegs gesehen habe, konnte ich meinen Augen nicht trauen, und hatte Tränen in den Augen.“

„Neben Germanistik studiere ich auch Polonistik an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität.“

In Ihrem Essay gehen Sie zu Beginn auf die ersten Tage des russischen Kriegs gegen die Ukraine ein. Wie haben Sie sie erlebt?

„Um ehrlich zu sein, waren meine ersten Gefühle Trauer, Überraschung und Enttäuschung. Denn niemand aus meinem Freundeskreis erwartete, dass es zu diesem Krieg kommen würde. Als ich die Bilder von ukrainischen Städten vom ersten Tag des Kriegs gesehen habe, konnte ich meinen Augen nicht trauen, und hatte Tränen in den Augen. Ich traf hier in Brünn natürlich bald Geflüchtete aus der Ukraine. Denn Tschechien gehört zu den Ländern, in denen Hunderttausende Ukrainer Zuflucht suchten. Im Sommer begegnete ich während meines Jobs einigen Ukrainern, die schon länger in Tschechien leben, aber Familie in der Ukraine haben. Sie zeigten mir die neuesten Videos aus ihrem Land, auf denen all die Grausamkeiten zu sehen waren: die Kriegsverbrechen sowie die Folgen der Luftangriffe. Ich war schockiert und entsetzt darüber, dass so etwas im 21. Jahrhundert passiert.“

Denken Sie, dass es ein neues Interesse für die Ukraine gibt und die Menschen nun mehr über das Land und seine Kultur erfahren wollen?

„Ich bin davon überzeugt, dass sich die Menschen in Europa mehr als zuvor für die Ukraine und die Geschichte des Landes interessieren. Sie wissen bedeutend mehr als etwa noch vor fünf Jahren und haben einen größeren Überblick darüber, was sich vor allem in den letzten 20 Jahren in der Ukraine abgespielt hat.“


Anne Glaser | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Siegerin des Essaywettbewerbs ist Anne Glaser geworden. Sie studiert Medizin in Tübingen. Hier ein Gespräch mit der Siegerin:

Wie haben Sie vom Essaywettbewerb erfahren?

„Über die Universität. Da ich über die Slawistik der Uni Tübingen mein Auslandssemester in Moskau gemacht habe, habe ich die Information mit Interesse gelesen, und das Thema hat mich berührt und bewegt.“

Sie waren gerade in Moskau, als Russland die Ukraine überfiel. Das muss für Sie ein Schock gewesen sein. Oder hat man geahnt, dass so etwas passieren könnte?

„Nicht wirklich. Hätte ich das geahnt, wäre ich nicht nach Moskau gereist. Ich bin Anfang Februar in Moskau angekommen und drei Wochen später hat der Krieg begonnen. Die letzten Tage zuvor hat man schon etwas geahnt, als die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken passiert ist. Aber dieses Ausmaß und wie dreist der Angriff war, damit hat man nicht gerechnet.“

Sie hatten vorher schon, wie Sie erzählten, Bekannte in der Ukraine und auch in Belarus…

„Ja, ich war 18 Monate – in den Jahren 2015 bis 2017 – in Minsk und danach auch häufig in der Ukraine und hatte dort Bekannte.“

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Hatten Sie mit Ihnen weiterhin Kontakt, als Sie in Russland waren?

„Ja, mit einigen schon. Ich war, ehrlich gesagt, überrascht, dass das funktioniert hat. Natürlich hätte ich es verstehen können, wenn sie keine Lust dazu hätten. Ich bin sehr dankbar, dass wir den Kontakt aufrechterhalten haben.“

Haben Sie in Moskau Menschen kennengelernt, die in der Opposition waren?

„Ja, ich habe sie gezielt aufgesucht, sonst hätte ich es dort nicht ausgehalten. In meinem Essay habe ich das auch beschrieben. Sehr viel Kontakt hatte ich zum Sacharow-Zentrum in Moskau, dort war ich sehr oft. Es waren nicht wenige Menschen, die ich getroffen habe, aber wiederum auch nicht viele. In meinem Essay habe ich auch beschrieben, wie ich bei der Gerichtsverhandlung dabei war, in der es um das Team des Menschenrechtszentrums Memorial ging. Das war sehr eindrücklich, sie dort zu sehen und zu hören.“

Wie wirkten sich der Krieg und die Erlebnisse auf Ihre Beziehungen, Ihre Gefühle aus?

„In meinem Essay habe ich thematisiert, dass ich Scham dafür empfinde, was passiert und dafür, dass man nicht genug tut oder sich anders verhält und Dinge anders wahrnimmt, als man es sich wünscht.“

„Das ist eine schwierige Frage und das war auch die Hauptfrage des Essays: Wie sich die persönliche Welt verändert hat. Sie hat sich im letzten Jahr immer wieder verändert. In meinem Essay habe ich thematisiert, dass ich Scham dafür empfinde, was passiert und dafür, dass man nicht genug tut oder sich anders verhält und Dinge anders wahrnimmt, als man es sich wünscht. Was ich auch beschrieben habe: Wenn man enge Beziehungen zu Leuten pflegt und sich nahe sein möchte, dann wird einem immer klarer, wie unterschiedlich wir alle von dieser Situation betroffen sind, wie sie jeden von uns auf eine andere Art berührt und für uns von Relevanz ist.“

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