Ukraine im Fokus – Brünner Symposium „In der Mitte Europas“
Am Wochenende fand in Brno / Brünn das Symposium „In der Mitte Europas“ statt. Das Motto der 31. Auflage der Konferenz lautete: „Vor dem Krieg – nach dem Krieg – mitteleuropäische Erfahrungen und Perspektiven“.
Über 200 Teilnehmer kamen bei der Konferenz in Brünn zusammen. Sie stammten aus Deutschland, Tschechien, Österreich, Polen, Ungarn, sowie der Slowakei und der Ukraine. Die Veranstalter von der Ackermann-Gemeinde und der Prager Bernard-Bolzano-Gesellschaft nannten die Beweggründe für das Thema des diesjährigen Symposiums. Sie erinnerten daran, dass die „jahrelang als musterhaft betrachtete deutsche Vergangenheitsbewältigung mit der russischen Invasion in die Ukraine plötzlich zum Objekt der Kritik seitens der ostmitteleuropäischen Staaten geworden ist“. Dies ist auch das Thema des folgenden Gesprächs mit einem der Diskussionsteilnehmer, Jörg Lüer. Er ist Geschäftsführer bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax und beschäftigt sich seit Jahren mit der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen, zwischen Ost- und Westeuropa.
Herr Lüer, Sie sagten während der Diskussion, Westeuropa habe die Warnungen, die es schon zuvor gab, nicht wahrgenommen. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
„Ich glaube, das hat verschiedene Ebenen. Der eine Punkt: Man hatte natürlich kein naives Bild von Russland. Man wusste schon, dass es ein autoritäres Regime ist auf dem Weg zur Diktatur. Aber es gab die Selbstüberschätzung der eigenen Politik. Und das sitzt tief in der deutschen Geschichte. Man sollte nicht glauben, wir haben schon aus der Geschichte gelernt, aber unsere Nachbarn im Osten sind teilweise noch im Denken des 19. Jahrhunderts verortet, dementsprechend wissen wir es besser. Das ist grundlegend falsch. Ich erinnere mich an Georgien 2008. Kaczynski hat damals darauf hingewiesen, dass es Russland nicht dabei belassen wird, sondern dass als nächstes die Krim dran sein wird – er hat sogar das Jahr 2014 erwähnt – und es dann weitergehen wird. Die Art und Weise, in der Kaczynski gesprochen hat, hat es in Deutschland unheimlich schwer gemacht, zuzuhören. Aber es ist trotzdem ein Fehler gewesen. Ich glaube, in Deutschland müssen wir besser zuhören lernen, die Dinge besser einordnen und müssen dann auch in eine konstruktive Auseinandersetzung miteinander treten. Es rächt sich, dass in einem großen Teil der deutschen Politik ein viel zu geringes Verständnis für die östliche Hälfte Europas vorherrscht. Das fängt etwa mit Sprachkenntnissen an. Ich hoffe aber sehr, dass aus dem jetzigen Konflikt auch eine Änderung hervorgeht. Denn so kann Europa nicht funktionieren.“
Sie erinnerten zuvor einige Mal daran, dass Westeuropa allzu wenig gewusst hat über Mittelosteuropa. Ändert sich das bereits?
„Ich wage nicht, für ganz Westeuropa zu sprechen, vielleicht nur für Deutschland. In den letzten Jahren haben wir viele Lehrstühle für ost- und ostmitteleuropäische Geschichte abgebaut. Das ist schlecht, weil wir nicht genügend Leute mit Kenntnissen ausbilden. Natürlich gibt es Leute, die auch Kenntnisse haben, es ist nicht so, dass Deutschland in dieser Hinsicht eine Wüste wäre. Aber wir müssen da mehr investieren – in die Ausbildung, in die Universitäten und in weitere Begegnungsformate wie dieses hier. Das halte ich für extrem wichtig.“
Unter den Referenten waren Diplomaten, Politologen, Historiker und Soziologen. Zugeschaltet haben sich auch der tschechische Außenminister Jan Lipavský (Piraten) und der Regierungsbeauftragte für den Wiederaufbau der Ukraine, Tomáš Kopečný.
Albert-Peter Rethmann hatte in der Vergangenheit die Professur für theologische Ethik an der Prager Karlsuniversität inne. Letztes Jahr ist er zum Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde gewählt worden, die das Brünner Treffen mitveranstaltet hat. Zum Abschluss des Symposiums entstand das folgende Interview mit Albert-Petr Rethmann:
Herr Rethmann, Sie waren zum ersten Mal bei diesem Treffen in Brünn dabei. Welche Anregungen bringt das Symposium den Teilnehmern?
„Als wir vor einem Jahr überlegt haben, welches Thema wir wählen für die Konferenz, dachten wir, dass es vielleicht ein Risiko sei, wenn wir ein so aktuelles Thema wie den Krieg nehmen. Wir sind froh, dass wir hier ein Forum geboten haben, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Gedanken und Zugängen miteinander ins Gespräch gekommen sind. Bei einem Krieg gibt es kein Rezept, wie damit umzugehen ist. In dieser Zeit, in der der Konflikt noch läuft und in der Menschen in diesem russischen Angriffskrieg getötet werden, müssen die Kanäle offen gehalten werden. Es ist notwendig, dass wir uns dafür einsetzen, dass es irgendwann wieder eine Nachkriegsordnung geben kann, in der Gerechtigkeit herrscht und in der die Menschenrechte gelten – und nicht die Gewalt des Stärkeren.“
Denken Sie, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine auch dazu geführt hat, dass sich die Menschen in Tschechien und anderen Ländern mehr für die Ukraine und seine leidvolle Geschichte zu interessieren begannen?
„Ich bin davon überzeugt, dass für die Menschen im Westen des Kontinents durch den Krieg Europa wieder größer geworden ist. Was ich außerdem noch wahrnehme: Es war in den letzten Jahrzehnten zumindest in den Kontexten Westeuropas, in denen ich mich bewegt habe, eine gewisse Entpolitisierung zu spüren. Man hat sich irgendwie eingerichtet, man war froh, dass wir einen guten Lebensstandard haben, dass wir in Frieden leben. Wir haben all das für selbstverständlich gehalten. Die Fragen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, führen dazu, dass wir wieder politischer werden, dass junge Menschen sich wieder für Politik interessieren, weil diese die Frage stellt, wie wir miteinander leben wollen.“
Während des Symposiums wurden auch die Ergebnisse eines internationalen Essaywettbewerbs für Studenten bekanntgegeben, den die Ackermann-Gemeinde durchgeführt hat. Gespräche mit den Preisträgern bringen wir in einer unserer nächsten Sendungen.
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