Exil, Hungerstreik und Motocross

Libor Rouček (Foto: Martina Schneibergová)
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Libor Rouček ist sozialdemokratischer Politiker und Publizist. Er war Vizepräsident des Europäischen Parlaments und ist Vorsitzender des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums. 1977 emigrierte er nach Wien, dort studierte er dann Politologie. Vor 30 Jahren, als das kommunistische Regime zusammenbrach, arbeitete er gerade als Redakteur beim Sender „Voice of America“. Rouček hat ein autobiografisches Buch mit dem Titel „Meine und unsere Geschichte“ geschrieben. Am Dienstag hat er den Band im Prager Verlag Academia vorgestellt. Nach der Präsentation ist folgendes Gespräch mit Libor Rouček entstanden.

Libor Rouček  (Foto: Martina Schneibergová)
Herr Rouček, Sie haben soeben ein autobiografisches Buch mit dem Titel „Meine und unsere Geschichte“ herausgegeben. Was war der Beweggrund?

„Ich bin über 60 Jahre alt und habe mehr Zeit als zuvor. Viele Leute haben mir gesagt: ,Du hast ein so buntes Leben gehabt, sodass es vernünftig wäre, alles aufzuschreiben‘.“

Sie sind in Kladno aufgewachsen. Wie sah dort das Leben in den 1960er und 1970er Jahren aus?

„Kladno war damals eine Industriestadt. Eine Hälfte der Bewohner – auch meine Familie – arbeitete in den Kohlegruben und die andere in den Stahlwerken. Als ich 16 Jahre alt wurde, bin auch ich in die damalige Poldi-Hütte gegangen, um Geld zu verdienen. Ich habe damals drei Jahre lang als Walzwerker gearbeitet und zugleich das Gymnasium besucht.“

„Ich bin in die Walzwerke gegangen, um Geld für mein Hobby zu verdienen: den Motocross.“

In Ihrem Buch gibt es einige Fotos, die Sie beim Motocross-Fahren zeigen. Warum gerade dieser Sport?

„Damals war Motocross nicht nur in der Tschechoslowakei sehr populär. Seit meinem elften oder zwölften Lebensjahr wollte ich auch Motocross fahren. Der Sport war jedoch teuer, und meine Mutter hat gesagt, sie gebe mir kein Geld dafür, dass sei meine Sache. Also bin ich in die Walzwerke gegangen, um Geld für meinen Hobby zu verdienen.“

Stimmt es, dass Sie in Kladno zum ersten Mal in Kontakt mit der deutschen Sprache gekommen sind?

Libor Rouček wollte seit seinem elften Lebensjahr Motocross fahren  (Foto aus dem Buch „Meine und unsere Geschichte“ von Libor Rouček)
„Ja, schon. Als ich neun oder zehn Jahre alt war, entschloss ich mich, Deutsch zu lernen. In den Kohlegruben von Kladno arbeiteten damals auch Menschen deutscher Herkunft. Sie stammten aus dem Riesengebirge und aus anderen Teilen des Sudetengebiets. Einer von ihnen war Herr Scholz, der meine Mutter von der Arbeit her kannte. Er war zweisprachig und hat mir viel Deutsch beigebracht. Das ging bis 1968, dann zog er zu seinem Bruder in die Bundesrepublik. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Im August 1968, als die Warschauer-Pakt-Truppen die Tschechoslowakei besetzten, waren Sie gerade mit den Eltern im Urlaub. Sie haben auch Österreich besucht, damals sind Sie alle jedoch in Ihre Heimat zurückgekehrt. War für Sie dieses Erlebnis irgendwie prägend, sodass Sie daran dachten, irgendwann doch ins Exil zu gehen?

„1968 gab es eine kurze Zeitspanne relativer Freiheit, man durfte nach vielen Jahren auch wieder in den Westen reisen. Wir waren damals in Jugoslawien und in Österreich. Ich habe gesehen, wie die Menschen in Österreich in Freiheit und Wohlstand leben. Ab da dachte ich oft darüber nach, wie es kommt, dass Menschen nur ein paar Kilometer von der Staatsgrenze entfernt ganz anders als wir leben. Das hat mich sehr beeinflusst. Neun Jahre später bin ich allein ins Exil gegangen – über Jugoslawien nach Österreich.“

„Das war die schwerste Entscheidung meines Lebens. Ich habe zwar daran geglaubt, dass sich das Regime irgendwann ändern muss, aber das war nicht sicher.“

Haben Sie sich darauf irgendwie vorbereitet? Es musste eine sehr schwierige Entscheidung gewesen sein, da Sie nicht gewusst haben, ob Sie Ihre Eltern und die ganze Familie wiedersehen werden…

„Ich kann auch heute sagen, dass es vermutlich die schwerste Entscheidung meines Lebens war. Ich habe zwar daran geglaubt, dass sich das Regime irgendwann ändern muss, aber das war nicht sicher. Ich war das einzige Kind, für meine Mutter war das sehr schwer und für mich auch. Es hat etwa drei Jahre lang gedauert, bis ich mich so stark gefühlt habe, um zu gehen.“

Hungerstreik im Stadtzentrum von Wien  (Foto aus dem Buch „Meine und unsere Geschichte“ von Libor Rouček)
Wie waren Ihre Anfänge im Exil in Österreich?

„Die Anfänge waren nicht leicht. Ich habe einige Monate im Flüchtlingslager in Traiskirchen verbracht. Nach etwa einem Jahr hat sich mein Traum erfüllt: Ich konnte ein Studium der Politikwissenschaft an der Universität in Wien beginnen.“

Zehn Jahre nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei haben Sie einen Hungerstreik abgehalten. Warum diese Form des Protests?

„Zehn Jahre waren seit dem Einmarsch vergangen, und deswegen hatte ich die Idee, zehn Tage Hungerstreik zu halten, um auf die Lage aufmerksam zu machen. Ich habe ein Zelt im Stadtzentrum von Wien aufgeschlagen – es war am Ring in der Nähe der Aeroflot-Filiale und einer Filiale des tschechoslowakischen Reiseveranstalters Čedok. Viele Leute haben wir Wasser und Tee gebracht und haben mit mir geredet. Ich habe damals auch Geld für Dissidenten gesammelt, die in der Tschechoslowakei im Gefängnis saßen. Die Wiener haben sehr positiv und solidarisch reagiert.“

Bruno Kreisky  (Foto: William Firaneck,  United States Department of Defense,  Public Domain)
Sie gehörten damals zum Umfeld von Bundeskanzler Bruno Kreisky. Wie kam es dazu?

„Österreich und vor allem Kreisky haben die Dissidenten und darunter auch Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei stark unterstützt. Ich habe mich als Sozialdemokrat gefühlt. Schon mein Großvater hatte der Partei angehört. Er hat in der Zwischenkriegszeit als Drucker in einer sozialdemokratischen Zeitung gearbeitet. Nach meiner Ankunft in Wien knüpfte ich Kontakte zu tschechoslowakischen und österreichischen Sozialdemokraten. Sie boten mir eine Stelle im Archiv der Partei an. Das war wunderbar für mich: Ich konnte studieren und zudem etwa 25 Stunden in der Woche in der Dokumentationsabteilung der tschechoslowakischen Sozialdemokraten arbeiten. Als ich dann das Studium beendete und den Doktortitel erhielt, überlegte ich, wie ich zur Verbesserung der Lage in meiner Heimat beitragen könnte. Der beste Weg war damals bei ‚Voice of America‘ oder ‚Radio Free Europe‘ zu arbeiten. Als die Samtene Revolution im November 1989 ausbrach, war ich bei ‚Voice of America‘ tätig.“

Wann kamen Sie zum ersten Mal nach etwa zwölf Jahren in die Tschechoslowakei zurück?

„Zum ersten Mal kam ich im Januar 1990 nach Prag. Das war wunderbar, das Land war frei, die Menschen waren begeistert und hatten große Erwartungen. Überall gab es tschechoslowakische Fahnen, das war ein unglaublich schönes Gefühl, das ich zuvor nur einmal erlebt hatte – und zwar 1968.“

„Die Menschen waren begeistert und hatten große Erwartungen. Überall waren tschechoslowakische Fahnen zu sehen.“

Haben Sie damals die Wiedergründung der sozialdemokratischen Partei miterlebt?

„Die tschechoslowakische oder tschechische Sozialdemokratie war die einzige sozialdemokratische Partei in Europa, die den Kommunismus überlebt hatte, jedoch im Exil im Ausland. Ich war der erste Journalist, der am 19. November 1989 die Erklärung über die Wiedergründung der Partei verlas. Das war bei ‚Voice of America‘. Ich war die ganze Zeit mit den Exil-Sozialdemokraten in Kontakt.“

Wann Sind Sie wirklich zurückgekehrt?

Foto: Verlag Academia
„Das war 1997. Ich habe gleich als Parteisprecher bei den Sozialdemokraten angefangen. Einige Monate später haben wir die Wahlen gewonnen, und ich war dann Sprecher der Regierung Zeman.“

Damals waren Sie als Regierungssprecher oft mit dem damaligen Premier und heutigen Staatspräsident in Kontakt. Haben Sie Zeman in den letzten Jahren getroffen?

„Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Denn er hat sich stark geändert, er ist kein Sozialdemokrat mehr, er steht den Rechtspopulisten sehr nahe. Zum letzten Mal hab ich ihn vor etwa sieben Jahren gesehen, als er das Europäische Parlament besucht hat.“

Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass er sich so geändert hat und versucht, den Sozialdemokraten möglichst viel zu schaden?

„Das hängt mit seiner Persönlichkeit zusammen. Er hat ein großes Ego, er ist ein politischer Mann und will unbedingt an die Macht und an der Macht bleiben. Als ich ihn zum ersten Mal überhaupt traf und mit ihm als Redakteur von ‚Voice of America‘ ein Interview führte, sagte er mir, er sei ein Liberaler und bewundere Winston Churchill. Zwei Jahre später war Zeman ein Sozialdemokrat. Dann trat er nach etwa 13 Jahren wieder aus der Partei aus. Seitdem kokettiert er immer mehr mit den Rechtspopulisten. Warum? Weil heutzutage die Rechtspopulisten mehr trendy sind als die Sozialdemokraten.“

Die Biografie von Libor Rouček mit dem Titel „Můj a náš příběh“ ist auf Tschechisch erschienen. Bisher gibt es keine deutsche Übersetzung.

Eine Rolle bei seiner Rache an den Sozialdemokraten spielt vermutlich die Tatsache, dass ihm mehrere seiner damaligen Parteifreunde 2003 bei der Präsidentenwahl nicht ihre Stimme gaben und er damals nicht gewählt wurde…

„Das stimmt. Darüber schreibe ich auch in meinem Buch.“

Sind Sie Optimist, was die politische Entwicklung anbelangt?

„Ich war immer und bin auch weiterhin ein Optimist. Ich habe an die Niederlage des Kommunismus geglaubt. Damals haben mir viele Leute gesagt, ich sei verrückt. Aber der Kommunismus ist zusammengebrochen. Wir haben ein vereintes Europa – die EU. Natürlich gibt es neue Herausforderungen. Ich bin davon überzeugt, dass wir in der Lage sind, aus unseren Fehlern zu lernen.“