Extremismusbericht: Innenministerium warnt vor Radikalisierung einer großen Bevölkerungsgruppe

In Tschechien gibt es eine große Gruppe von unzufriedenen Menschen, die anfällig sind für radikale Ansichten und auch Aktivitäten. Diese Warnung enthält der aktuelle Halbjahresbericht des hiesigen Innenministeriums zu extremistischen Bestrebungen.

Miroslav Mareš | Foto:  Archiv von Miroslav Mareš

In der tschechischen Gesellschaft besteht ein Potential, das die demokratischen Grundlagen des Landes gefährden könnte. So lautet die Warnung, die das Innenministerium mit seinem Situationsbericht zu extremistischen Tendenzen für das zweite Halbjahr 2022 verbindet. Das Dokument wurde am Sonntag veröffentlicht. Dessen Kernbotschaft erläutert Miroslav Mareš, Politologie-Professor an der Masaryk-Universität in Brno, im Gespräch mit Radio Prag International:

„Das Wichtigste ist die Tatsache, dass es eine Menge Menschen gibt, die unzufrieden sind mit der Entwicklung des politischen Systems. Sie könnten sich radikalisieren oder haben sogar schon extremistische Ansichten. Es handelt sich um eine große Gruppe an Menschen, die keinen starken ideologischen Background haben und aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen kommen – angefangen von orthodoxen Kommunisten bis hin zu Rechtsextremisten.“

Diese Gruppe sei sehr heterogen, fährt Mareš fort. Es gebe zwar einzelne, politisch gefestigte Lager, wie etwa auch überzeugte Kremlanhänger. Allerdings fehle der Masse eine einheitliche ideologische Grundlage. Gemeinsam sei diesen Menschen aber die Bereitschaft zu öffentlichen und womöglich radikaleren Aktivitäten, so Mareš.

Ladislav Vrabel | Foto: Kateřina Šulová,  ČTK

Im Bericht des Innenministeriums steht dazu, dass sich die Betreffenden stark an Konspirationstheorien orientierten und damit leicht durch extremistische und xenophobe Ansichten zu manipulieren seien. Als Beispiel führen die Analysten die Anti-Regierungs-Demonstrationen an, die der Aktivist Ladislav Vrabel hierzulande organisiert. Im vergangenen September kamen dazu etwa 70.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz zusammen. Solche Kundgebungen seien einer der wenigen Anhaltspunkte für die Schätzung, wie groß die Zahl der Unzufriedenen und potentiell Radikalen in Tschechien eigentlich sei, merkt Mareš an:

„Anhand dessen kann man von vielleicht 100.000 Menschen ausgehen, die bereit sind, sich an öffentlichen Aktivitäten zu beteiligen. Ansonsten glaube ich, dass zu dieser Gruppe insgesamt 500.000 bis eine Million Menschen gehören.“

Foto: Kateřina Šulová,  ČTK

Eine weitere Herausforderung für Tschechien sind laut Innenministerium jene Extremisten, die vor allem im Online-Bereich aktiv sind. Diese gibt es dem Bericht zufolge in allen Alters- und Gesellschaftsgruppen. Dazu sagt Miroslav Mareš:

„Die zweite Botschaft lautet, dass es hierzulande eine Online-Community von Neonazis gibt. Und diese Leute sind bereit für terroristische Einzeltaten, vergleichbar mit dem Anschlag in Bratislava im vergangenen Jahr.“

Auf den Oktober 2022,  als vor einer LGBT-Bar in der slowakischen Hauptstadt zwei Männer erschossen wurden | Foto: Ladislav Novák,  Tschechischer Rundfunk

Dabei bezieht sich der Politologe auf den Oktober 2022, als vor einer LGBT-Bar in der slowakischen Hauptstadt zwei Männer erschossen wurden. In Tschechien hätten Extremisten bisher noch keine Gewalt angewendet, ergänzt Mareš:

„Es besteht aber die Gefahr, dass beide Gruppen in Zukunft gewalttätiger werden. Das ist auch der Grund, warum das Innenministerium diese Warnung jetzt ausspricht.“

Die zusammenfassende Einschätzung des Ressorts lautet, dass in Tschechien weiterhin die erste Terrorismusgefahrenstufe gelte. Die Skala reicht von null bis drei, was die höchste Bedrohung darstellt. Das Risiko eines Anschlags hierzulande hänge derzeit vor allem von der Lage außerhalb des Landes ab sowie von Tschechiens internationalem Engagement einschließlich seiner Nato-Mitgliedschaft, so die Analyse des Innenministeriums.

Autoren: Daniela Honigmann , Anna Fodor
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