Vorurteile, Diskriminierung, Rassismus: Wie funktioniert das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in Tschechien?

Nationale Minderheiten

Roma, Ukrainer, Vietnamesen, aber auch Vertreter vieler weiterer nationaler Minderheiten sind seit Jahren Teil der tschechischen Gesellschaft. Wie ist das Leben in Tschechien für sie? Wie gut kommen sie mit dem Rest der Gesellschaft aus? Inwiefern begegnen sie Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung? Und wie stark ist der Rechtsextremismus in Tschechien? Das sind Fragen für die vierte Folge des Podcasts „Sechsmal Tschechien“, der in Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung entsteht.

„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen
https://www.slpb.de/veranstaltungen/veranstaltungsreihen/podcast-sechsmal-tschechien

Das Gebiet, auf dem sich heute die Tschechische Republik befindet, war im Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit und Kultur in der Geschichte zumeist sehr mannigfaltig. Noch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit hätten die Tschechinnen und Tschechen nur etwa die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht, betont der Politikwissenschaftler Jan Charvát von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität:

„Zwischen den Weltkriegen, aber auch schon davor, trafen in den Böhmischen Ländern meist zumindest die tschechische, die deutsche und die jüdische Kultur aufeinander. Prag wurde als Kreuzung der Kulturen wahrgenommen, Mitteleuropa war ethnisch stark durchmischt. Während der Zeit Österreich-Ungarns war es gang und gäbe, dass Tschechen im gesamten Gebiet von der Ostsee bis zur Adria lebten – und genauso kamen aus all diesen Regionen Menschen hierher.“

Diese kulturelle und ethnische Vielfalt ging aber im 20. Jahrhundert verloren – vor allem aufgrund des Holocausts und der anschließenden Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Seitdem ist die tschechische Gesellschaft in ethnischer Hinsicht recht homogen. Jan Charvát:

Zwangsaussiedlung von Roma aus Vsetín | Foto: Stadt Vsetín

„Die Tschechen haben sich an diese Einheitlichkeit gewöhnt. Weiter befeuert wurde sie auch durch das kommunistische Regime. Das hat natürlich einen Einfluss darauf, wie das Zusammenleben verschiedener Ethnien heute hierzulande funktioniert. Die Erfahrungen mit Vielfältigkeit sind einfach abgerissen. Wenngleich diese Unterbrechung aus historischer Sicht nicht sonderlich lang ist, ist die Erfahrung bereits für Generationen verloren gegangen. Für uns ist so etwas ungewöhnlich, wir wenden uns dagegen. Das zeigt sich etwa an der seit langem negativen Haltung von Tschechinnen und Tschechen zur Roma-Minderheit. Ähnliche Phänomene gibt es dabei auch anderswo in Europa. Wir Menschen haben einfach die Tendenz, einen Sündenbock zu suchen, an dem gezeigt werden kann, was alles falsch läuft. Deshalb behaupten wir, dass die Roma arm seien und sich nicht um sich selbst kümmern könnten. Und dass sie viele schlimme Dinge täten, die ein Tscheche nie tun würde. Wenn doch, dann sei das doch ganz etwas anderes, als wenn so etwas ein Rom mache.“

Obwohl die tschechische Gesellschaft heute nicht mehr so vielfältig ist wie zu Zeiten Österreich-Ungarns, kann man keinesfalls sagen, dass sie komplett homogen ist. Ihren Anteil haben nicht nur die bereits erwähnten Romnja und Roma, sondern auch Vietnamesinnen und Vietnamesen, die auf Grundlage bilateraler Abkommen bereits ab dem Ende der 1950er Jahre in die Tschechoslowakei gekommen sind. Offiziell würden in Tschechien heute 14 nationale Minderheiten anerkannt, sagt die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková.

Klára Šimáčková Laurenčíková | Foto: Šárka Ševčíková,  Tschechischer Rundfunk

„Die nationalen Minderheiten bilden rund zehn Prozent der Bevölkerung Tschechiens. Die Gesellschaft hierzulande wird auch immer vielfältiger. Nationale Minderheiten und Menschen aus anderen Kulturen und Ländern machen aber keinen so großen Anteil aus wie in anderen europäischen Ländern, etwa wie in Deutschland oder Österreich. Die offiziellen 14 nationalen Minderheiten, die in Tschechien unterschieden werden, sind die ukrainische, die slowakische und die deutsche Minderheit, die Roma und die Polen, aber auch die russische, ungarische, bulgarische, weißrussische, kroatische, griechische, vietnamesische und russinische Minderheit. All diese Gruppen sind im Regierungsrat für nationale Minderheiten vertreten.“

Unsichtbare slowakische Minderheit

Die größten nationalen Minderheiten in Tschechien sind die ukrainische, die slowakische, die Roma-Minderheit sowie die Vietnamesinnen und Vietnamesen. Die slowakische Minderheit ist im Grunde unsichtbar, denn die Menschen aus der Slowakei und aus Tschechien sind sich kulturell, sprachlich und auch in vielen weiteren Aspekten sehr nah. Studierende aus der Slowakei können an tschechischen Hochschulen etwa in ihrer Sprache Prüfungen ablegen. Der ukrainischen Minderheit werden wir uns in der letzten, also der sechsten Folge dieses Podcasts noch genauer widmen. In dieser Folge soll es vor allem um die Romnja und Roma sowie um die vietnamesische Minderheit gehen. Beide Gruppen sind sehr unterschiedlich, mit einer jeweils anderen Geschichte. Und dennoch stehen sie in mancherlei Hinsicht vor ähnlichen Hindernissen und Herausforderungen.

Illustrationsfoto: Vendula Kosíková,  iROZHLAS.cz

Die Romnja und Roma leben bereits lange als Minderheit hierzulande. Sie kamen bereits vor vielen Jahrhunderten in die Böhmischen Länder. Im Laufe der Zeit wurden sie dabei des Öfteren Ziel politischer Repressionen – auch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, wie die Historikerin Renata Berkyová vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften schildert:

„Der Gipfel war ein Gesetz von 1927, das die sogenannten ‚Wanderzigeuner‘ betraf, sich aber eigentlich pauschal gegen einen erheblichen Teil der Roma-Bevölkerung richtete. Zusammen mit diesem Gesetz erfolgte die Registrierung der sogenannten ‚Zigeuner‘. Dies trug später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, dazu bei, dass die Roma schneller in Konzentrationslagern interniert werden konnten.“

Renata Berkyová | Foto: Tschechischer Rundfunk

Die repressive Politik gegen die Roma-Minderheit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre passt damit so gar nicht zum Bild der Tschechoslowakei als demokratischer Insel inmitten Europas.

„Der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk wird oft als demokratisch eingestellte Persönlichkeit gefeiert. Wenn wir aber über die Geschichte der Roma und ihre Integration in die sogenannte große tschechoslowakische Geschichte sprechen, dann darf man nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es gerade die Unterschrift von Präsident Masaryk war, durch die 1927 das Gesetz gebilligt wurde. Dadurch ließ er die spätere Registrierung und Kriminalisierung der Roma zu.“

Die Rassenverfolgung von Sinti und Roma erreichte während der Besetzung durch Nazi-Deutschland ein tragisches Ausmaß. Auf dem Gebiet des „Protektorats Böhmen und Mähren“ entstanden gleich zwei Konzentrationslager für Sinti und Roma – eines in Lety bei Písek und eines im südmährischen Hodonín bei Kunštát / Kunstadt. Die Historikerin Renata Berkyová sagt:

„Auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren lebten rund 6500 tschechische Sinti und Roma. Nach dem Krieg kamen nur etwa 600 von ihnen aus den Konzentrationslagern zurück. Das heißt, dass 90 Prozent der Sinti und Roma mit tschechischen Wurzeln den Krieg nicht überlebten.“

Modell vom Lager in Lety | Foto: Alexis Rosenzweig,  Radio Prague International

Die meisten der tschechischen Sinti und Roma starben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ein Teil von ihnen kam aber auch in Folge der katastrophalen Lebensumstände in den Konzentrationslagern in Lety und Hodonín ums Leben. Die Leitung dort hatte die tschechische Gendarmerie inne. Nach dem Krieg wurde der Völkermord an den Roma in der Tschechoslowakei lange Zeit verschwiegen. An jener Stelle, an der sich das Konzentrationslager in Lety bei Písek befunden hatte, wurde in den 1970er Jahren sogar eine große Schweinemast errichtet. Erst nach 1989 begann man, offen über den Genozid an den Sinti und Roma zu sprechen. Weiter Renata Berkyová:

„In den 1990er Jahren wurde die tschechische Gesellschaft mit der Existenz der beiden Konzentrationslager in Lety und Hodonín und überhaupt mit der Rassenverfolgung zur Zeit des Protektorats konfrontiert. Es wurde zwar ein Denkmal am Ort eines Massengrabes in der Nähe des Lagers in Lety gebaut – auf dem einstigen Lagergelände stand allerdings immer noch die Schweinemast. Die Roma verlangten aber auch Entschädigungen und eine öffentliche Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma. Und zu diesem Zeitpunkt wurde die Debatte relativiert und der Genozid in Frage gestellt – und das selbst durch führende Politiker.“

Gewaltsame Übergriffe

Der ehemalige Staatspräsident Václav Klaus (Bürgerdemokraten) etwa zweifelte noch 2005 an, dass es sich im Falle der Anlage in Lety um ein Konzentrationslager gehandelt habe. Stattdessen betonte er, dass das Gelände in den ersten Jahren seiner Existenz als Strafarbeitslager gedient hätte. Die Debatte um den Roma-Holocaust spiegelte also die vorherrschenden Vorurteile vieler Tschechinnen und Tschechen gegen die Romnja und Roma wider. Die ablehnende Haltung führte in den 1990er Jahren gar zu einer Reihe rassistisch motivierter Angriffe – die man aus der Zeit vor 1989 nicht kannte. Der Politikwissenschaftler Jan Charvát erläutert:

Václav Klaus | Foto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

„Es kam zu mehreren rassistischen Gewalttaten, bis hin zu Morden. Als es innerhalb des Jahres 1995 gleich drei derartige Angriffe gab, sah sich die Regierung gezwungen, eine anti-extremistische Politik zu formulieren. Seit dieser Zeit erscheinen etwa regelmäßig die Extremismusberichte. In den 1990er Jahren wurden häufig Menschen mitten auf der Straße angegriffen, und oft handelte es sich bei den Opfern um Roma. Ein Problem lag darin, dass die Polizei in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nicht wirklich bereit war, das Problem anzugehen. Auch danach dauerte es noch lange, bis sie lernte, wie man mit rassistisch motivierten Gewalttaten umgehen muss. Es war wirklich eine wilde Zeit. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang der 1990er Jahre Gewalt in Prag allgegenwärtig war. Wenn man heute an diese Zeit zurückdenkt, werden oft die freie Wirtschaft und die Möglichkeiten des Reisens betont. Rassistisch motivierte Angriffe werden gern übersehen. Das liegt daran, dass nur einige Menschen den Raum bekommen, um öffentlich über die 1990er Jahre zu reden. Vor allem sind das Leute, die in der heutigen Gesellschaft ihren festen Platz haben und an ihre großartige Zeit als junge Unternehmer zurückdenken oder an ihre Reisen. Wenn wir aber andere Menschen fragen würden, dann würden sie uns davon erzählen, wie sie in den 1990er Jahren vor Gruppen von Skinheads weglaufen mussten.“

Rassistisch motivierte Angriffe, aber auch soziale Ausgrenzung und Diskriminierung in zahlreichen Lebensbereichen trugen zu einer Massenauswanderung der Romnja und Roma bei, insbesondere nach Großbritannien und Kanada. Schätzungen zufolge haben seit den 1990er Jahren mehr als 75.000 Angehörige dieser Minderheit Tschechien in Richtung Westen verlassen. Lucie Fuková ist Regierungsbeauftragte für Angelegenheiten der Roma-Minderheit.

„Die Roma, die heute hier leben, stammen aus der Ostslowakei und kamen nach 1946 nach Tschechien. Sie ließen sich hauptsächlich in den industriell geprägten Gegenden im Norden Böhmens und Mährens nieder, um dort zu arbeiten. Roma wohnen heute jedoch auch an vielen weiteren Orten in Tschechien. Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Roma aus, die in Tschechien leben. Aber diese Zahl ist sehr im Wandel begriffen, denn in den 1990er Jahren verließen viele Angehörige der Minderheit Tschechien und gingen in den Westen.“

Die Romnja und Roma in Tschechien seien heute noch immer mit erheblichen sozialen Hindernissen und in einigen Fällen mit systematischer Diskriminierung konfrontiert, betont die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Šimáčková Laurenčíková:

„Das zeigt sich etwa an der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt sowie in den Ungleichheiten im Bildungswesen. Die vorurteilsbehaftete Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber Roma trägt ihren Teil dazu bei.“

Warum sind Roma auch heute noch systematischer Diskriminierung ausgesetzt? Und wieso werden Roma und Vietnamesen von den Menschen in Tschechien ganz unterschiedlich wahrgenommen? Diese Fragen klärt die Langversion des Podcasts als Audio. Zu hören auf unserer Webseite oder in allen gängigen Podcast-Plattformen.

Autor: Filip Rambousek
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