Genialer Architekt des Barock: der böhmische Baumeister Santini-Aichel

Kathedrale in Sedlec bei Kutná Hora

In 23 Jahren aktiven Schaffens schuf er fast 100 Bauten. Dabei war Johann Blasius Santini-Aichel seit seiner Geburt behindert. Dennoch wurde er zu einem der wichtigsten Architekten des Barock in Böhmen. Vor genau 300 Jahren ist dieses Genie gestorben.

Wallfahrtskirche des Heiligen Johann Nepomuk | Foto: Magdalena Kašubová,  Radio Prague International

Die Johann-Nepomuk-Wallfahrtskirche auf dem Hügel Zelená Hora bei Žďár nad Sázavou. Sie gilt als das Meisterstück von Jan Blažej Santini-Aichel, der auf Deutsch als Johann Blasius Santini-Aichel bekannt ist. In ihrer Form ist die Kirche eigentümlich, sie beruht auf einem Kreis. Michaela Kokojanová ist Fremdenführerin und erläutert vor Ort:

„Hier ist ein sehr originelles Werk entstanden. Santini war einer der ersten Architekten überhaupt, die einen Zirkel für ihre Entwürfe benutzt haben. Und deswegen gibt es hier in der Kirche keine einzige gerade Wand und keinen rechten Winkel.“

Foto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International

Aber nicht nur das: Überall hat der Architekt die Zahl fünf walten lassen. Damit spielt er auf die fünf Sterne an, die der Legende nach den Leichnam des Märtyrers Johann von Nepomuk umgaben, als er aus der Moldau gezogen wurde. So hat die Kirche fünf Ausbuchtungen, zudem gibt es unter anderem fünf Altäre, fünf Gänge, fünf Kapellen und fünf Zugänge. Das Bauwerk ist so besonders, dass es schon seit 1994 auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes steht.

Innenraum der Kirche | Foto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International

Erfinder der Barockgotik

Doch wer war dieser Johann Blasius Santini-Aichel? Geboren wurde er 1677 in Prag – und zwar in die Familie eines angesehenen Steinmetzes. Die Santini-Aichels lebten bereits in dritter Generation in der Stadt an der Moldau und kamen ursprünglich vom Luganer See im heutigen Schweizer Kanton Tessin.

Kirche des Heiligen Johann Nepomuk auf Zelená hora | Foto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International

Stanislav Růžička ist Gründer und Vorsitzender des Vereins „Putování za Santinim“, auf Deutsch etwa „Wandern auf den Spuren Santinis“, und sagt:

„Er war der erstgeborene Sohn. Leider war er aber körperlich eingeschränkt. Als Erwachsener schrieb er über sich, dass er teils gelähmt sei. Dieses Handicap erlaubte ihm nicht, seinem Vater ins Gewerbe des Steinmetzes zu folgen, das in der damaligen Bauzunft hohes Ansehen genoss. Dafür waren ihm andere hervorragende Eigenschaften in die Wiege gelegt: Er war tiefblickend, intelligent, hatte wohl ein hervorragendes Gefühl für den Raum und war künstlerisch begabt. Deswegen wählten die Eltern aus zwei möglichen Karrierewegen: Der eine war der eines Geistlichen, der aber verworfen wurde. Man entschied sich für den Weg eines Architekten – auch wegen der Zunftzugehörigkeit des Vaters. Dabei half genauso dessen Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem französischen Architekten Jean-Baptiste Mathey, der zu Ende des 17. Jahrhunderts der wohl bedeutendste Baumeister in Mitteleuropa war. Gerade bei ihm ging der junge Johann Blasius in die Lehre.“

Kathedrale in Sedlec bei Kutná Hora | Foto: Pavel Honus,  Tschechischer Rundfunk

Nach der Lehre folgten drei Wanderjahre. Diese führten ihn in die Niederlande und nach England, sowie nach Wien. Besonders wichtig für seinen späteren Stil als Architekten wurde aber wohl das Reiseziel Italien. Santini erfand später die sogenannte Barockgotik, bei der er bestimmte Elemente der Gotik in den zeitgenössischen Baustil einfließen ließ. Besonders zeigte sich dies in der Ausgestaltung der Gewölbe in Kirchen. Richard Biegel leitet an der Prager Karlsuniversität das Institut für Kunstgeschichte und erläutert, was zur Barockgotik geführt haben dürfte:

„Santini muss bei der Reise bis nach Rom gelangt sein und die Bauten von Francesco Borromini gesehen haben. Anders lässt sich sein Schaffen nicht erklären. Ich stehe hier in Panenské Břežany in der Kapelle der Hl. Anna, einem seiner frühen Bauten. Sie entstand, als er noch nicht einmal 30 Jahre alt war. Und hier sieht man, dass Santini bestimmte Themen weiterverarbeitet hat, die Borromini als Barockarchitekt ausgezeichnet haben und auf die in Rom kaum jemand reagiert hat. Santini ist das aber hier und mit seinen Bauten an weiteren Orten gelungen. Dabei könnte eine Rolle gespielt haben, dass er wie Borromini von der Gotik beeinflusst war. Außerdem war Borromini ursprünglich Steinmetz und hat mindestens mitgearbeitet am Bau des spätgotischen Doms in Mailand. Und der junge Santini musste dem Vater immer die Jause zur Arbeit in den Prager Veitsdom bringen, wo ihn die Gotik umgab.“

Kapelle der Hl. Anna | Foto: Markéta Vejvodová,  Tschechischer Rundfunk

Ganz erstaunlich war aber erst einmal der steile Aufstieg des Architekten aus Böhmen nach seinen Wanderjahren. Dazu Stanislav Růžička:

„Als er um das Jahr 1700 nach Böhmen zurückkehrte, wurde er weiterempfohlen. Aber es bleibt wohl sein Geheimnis, wer der Fürsprecher gewesen sein mag. Denn Santini war gerade einmal 23 Jahre alt, erhielt jedoch sofort einen prestigeträchtigen Auftrag. Dies war der Neubau des Zisterzienser-Klosters in Zbraslav bei Prag. Und in der Folge begannen seine künftigen Investoren – das waren vor allem die Vertreter der großen Kirchenorden –, sich die Klinke in die Hand zu geben. So kam Santini dann 1706 nach Žďár nad Sázavou.“

Architekturzentrum Ždár nad Sázavou

Foto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International

Gerade Žďár nad Sázavou an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren lässt sich heute als das architektonische Zentrum Santinis sehen. Zehn Bauten von ihm, sowohl kirchliche als auch weltliche, finden sich noch immer hier.

Entscheidend war, dass der neue Abt des dortigen Zisterzienserklosters, Václav Vejmluva, ein Fan des jungen Architekten war.

„Václav Vejmluva erkannte sehr schnell, was er an Santini hatte. Er fand in ihm einen ähnlich denkenden, tief gläubigen Menschen, der jedes seiner Bauwerke in einzigartiger Weise projektierte und umsetzte. Und das mit der ganzen Entschlossenheit, die ihm zu eigen war. Dabei war es egal, ob es sich um einen Pestfriedhof, eine kleine Kapelle auf einer Anhöhe oder einen Gutshof handelte“, so Stanislav Růžička.

Unterer Friedhof in Žďár nad Sázavou | Foto: Irena Šarounová,  Tschechischer Rundfunk

Außerdem muss Johann Blasius Santini-Aichel ein wirkliches Arbeitstier gewesen sein. Weitere wichtige Bauten von ihm waren die Klosterkirchen Mariä Himmelfahrt in Sedlec / Sedletz bei Kutná Hora / Kuttenberg und im westböhmischen Kladruby / Kladrau sowie die Wallfahrtskirche in Křtiny / Kiritein bei Brno / Brünn. Der Vereinsvorsitzende:

„Am Ende seiner Schaffenszeit, also 1722 und 1723, betreute er acht große Bauaufträge gleichzeitig in Böhmen und Mähren. Das reichte von Rajhrad in Ostmähren bis nach Kladruby in Westböhmen, nahe der Grenze zum heutigen Deutschland. Dazwischen lagen rund 450 Kilometer Entfernung. Und in den Verträgen stand, dass Santini die Baustellen mindestens einmal im Jahr persönlich besuchen musste, weil er die Aufsicht über die Arbeiten hatte. Da er selbst keine Baufirma betrieb, hatte er für den Rest der Zeit jeweils Mitarbeiter vor Ort, die seine Ideen dort umsetzten.“

Santini starb am 7. Dezember 1723 im Alter von nur 46 Jahren. Am Ende der Bausaison war der Architekt erkrankt und kehrte nach Prag zurück, wo er im Kreise seiner Familie die letzten beiden Tage seines Lebens verbrachte.

Kloster Kladruby | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Unglaublich experimentell

Kloster Plasy | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Johann Blasius Santini-Aichel gilt neben dem aus Bayern stammenden Kilian Ignaz Dientzenhofer als wichtigster Baumeister des Spätbarock in Böhmen. Kunsthistoriker Biegel kann seine Bedeutung gar nicht hoch genug schätzen:

„Santini war ein Genie. Das wage ich einfach deswegen zu behaupten, weil seine Bauten so unglaublich experimentell sind. Wenn man in der Architektur experimentieren will, kann man zum Beispiel bestehende Elemente neu kombinieren. Oder man geht über die bisherigen Grenzen hinaus. Und jene Meister in der Geschichte der Architektur in Europa, die über die Grenzen des Möglichen hinausgedacht haben, waren nicht gerade viele. Zu ihnen hat aber Santini gehört.“

Wallfahrtsort Mariánská Týnice / Maria Teinitz mit der Kirche Mariä Verkündigung | Foto: Zdeňka Kuchyňová,  Radio Prague International

Trotz seiner körperlichen Einschränkungen – und man muss ja sagen, dass er auch noch eine Familie hatte – schuf Santini eine gewaltige Anzahl an Bauten in den nur 23 Jahren seiner professionellen Karriere. Stanislav Růžička:

„Er hat rund 100 Bauten projektiert und umgesetzt. Das waren also etwa vier Projekte pro Jahr, im Umfang der Klöster in Žďár nad Sázavou, Kladruby und Plasy oder großer Schlossanlagen sowie der Palais in Prag. Deswegen muss er in der Lage gewesen sein, seine Entwürfe auch während der Kutschfahrt anzufertigen. Anders wäre das nicht zu schaffen gewesen. Es wäre sicher sehr interessant, wenn man sehen könnte, wie Santini gearbeitet hat. Und alle Architekten von heute müssten sich vor ihm verneigen, zu welchen Leistungen jemand fähig sein kann, der an sich selbst glaubt.“

Wie viele Bauwerke Santini wirklich geschaffen hat, ist gar nicht bekannt. Denn ein nicht geringer Anteil wurde zerstört und steht also heute nicht mehr. Deswegen beruht die heute geschätzte Zahl auf Nachforschungen in schriftlichen Quellen.

Autor: Till Janzer | Quelle: Český rozhlas
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