Nachfahre italienischer Handwerker in Prag: Santini und die Barockgotik

Kirche des hl. Johannes von Nepomuk auf dem Grünen Berg (Foto: Archiv Radio Prag)

Anfang Dezember vergangenen Jahres jährte sich der 290. Todestag eines der interessantesten Architekten in der tschechischen Geschichte: Jan Blažej Santini-Aichel. Auf Deutsch ist er unter dem Namen Johann Blasius Santini bekannt. Der Künstler mit italienischen Wurzeln gilt als Schöpfer eines einzigartigen Baustils: der Barockgotik. Im Folgenden mehr zu den Italienern in Prag und Santinis Baukunst.

Mauro Ruggiero  (Foto: Café Boheme Online-Magazin)
Das Schaffen von Johann Blasius Santini ist nicht zu erklären, ohne ein Wort über die italienische Zuwanderung in die Böhmischen Länder zu verlieren. Mauro Ruggiero ist Doktorand an der Prager Karlsuniversität und arbeitet am italienischen Kulturinstitut in der Stadt an der Moldau:

„Die Präsenz von Italienern auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik hat eine lange historische Tradition. Im Mittelalter lässt sich noch nicht von einer Migrationswelle sprechen. 1526 bestiegen die Habsburger den böhmischen Königsthron, und schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ließen sich in Prag zahlreiche Familien von Handwerkern und Geschäftsleuten aus Italien nieder. 1583 machte Rudolf II. Prag dann zu seiner Residenz. Die Geschäftsleute konzentrierten sich insbesondere auf den Verkauf von Luxuswaren, die am Kaiserhof sehr gefragt waren. Doch den größten Anteil bildeten Architekten, Maurer, Steinmetze und Stuckateure, die sich an der Wiederherstellung einzelner Teile des königlichen Palastes auf der Prager Burg sowie am Bau von Residenzen böhmischer Aristokraten beteiligten. Die Adligen hierzulande bewunderten den Stil der Renaissance, der seine Wurzeln in Italien hatte.“

Region von Lugano  (Foto: Google Maps)
Die Italiener kamen überwiegend aus Norditalien, insbesondere aus der Region von Lugano, die heute einen Teil des schweizerischen Kantons Tessin bildet, sowie vom Gebiet rund um den Comer See. Ein Teil von ihnen lebte in der unmittelbaren Nähe der Prager Burg, andere wiederum unterhalb der Burg nahe des heutigen Kleinseitner Platzes, damals Piazetta italiana genannt. In historischen Quellen sind Familiennamen wie zum Beispiel Lucchese, Bossi, Rossi, Gambarini oder Quadri zu finden. Im Lauf der Zeit wuchs die Gemeinde der Prager Italiener weiter.

„Das bewog die Jesuiten, die auf Einladung von Ferdinand II. nach Prag kamen, schon ab 1560 in der Klement-Kirche in der Prager Altstadt die Messe auf Italienisch zu lesen. Auf Initiative des Jesuitenordens formierte sich bis 1575 auch die italienische Kongregation der hl. Mariä Himmelfahrt. Ihr Motto lautete ´Pro deo et paupere´ - ´Für Gott und für die Armen´. Mit ihrer Tätigkeit verfolgte sie zwei Hauptziele: die Verteidigung des katholischen Glaubens im protestantischen Böhmen und die Wohltätigkeit für Arme und Bedürftige“, so Mauro Ruggiero.

Guido Carrai  (Foto: Archiv der Gesellschaft der Freunde Italiens)
Die Gründung der Kongregation trug maßgeblich zum Zusammenhalt der italienischen Minderheit bei. Diese Minderheit wurde von der einheimischen Bevölkerung eigentlich positiv wahrgenommen. Nur in der Baubranche war das anders. Guido Carrai ist Architekt und Kunsthistoriker. Er hat ein Buch über italienische Renaissance- und Barockarchitekten in Böhmen veröffentlicht:

„Zwischen den einheimischen Zünften und den ausländischen Baumeistern, von denen die Besten mit Privilegien ihrer adligen Auftraggeber ausgestattet wurden, herrschte Rivalität. Die Einheimischen betrachteten die Ausländer als Eindringlinge, die die Preise auf dem Baumarkt drückten. Die Italiener beschwerten sich hingegen, dass die ansässigen Zünfte ihre Tätigkeit behinderten. Die italienischen Handwerker bildeten eigene Zünfte, von diesen hatten jene in der Altstadt, der Neustadt und auf der Kleinseite den größten Einfluss. Die Mitgliedschaft in einer Zunft war allerdings keine Formalität, sondern eine Grundbedingung für den Erhalt von Bauaufträgen. Die Hauptvoraussetzung war der Besitz eines Lehrbriefs, der wiederum nur durch die Erfüllung einer ganzen Reihe von im Zunftstatut festgeschriebenen Bedingungen zu erlangen war.“

Jan Blahoslav
Dank ihrer Leistungen konnten sich die italienischen Handwerker in Prag aber durchsetzen und erfreuten sich eines guten Rufes. Selbst schätzten sie das hochwertige Baumaterial in den Böhmischen Ländern. Guido Carrai zitiert in diesem Zusammenhang Jan Blahoslav (1523 – 1571), einen Bischof der Böhmischen Brüder und Schriftsteller des 16. Jahrhunderts:

„Von den italienischen Baufachleuten habe ich sagen hören, Prag sei eine gesegnete Stadt. Es verfüge über ausgezeichneten, für das Bauen geeigneten Stein inklusive des Kalksteins, dessen Haftungsfähigkeit dem des Harzes ähnlich sei und dessen Farbe an Schnee erinnere. Der Prager Kalk verwandle sich in eine breiige Masse und sei daher für Stuckaturen gut geeignet. Auch wenn sie Italien, Frankreich, die deutsche Landen oder Polen durchreist hätten, so die Baufachleute, hätten sie sicher keinen Ort gefunden mit vergleichbar günstigen und einfachen Baumöglichkeiten wie Böhmen. Außerdem wurde ich von italienischen Maurern belehrt, dass man in Italien jeden guten Kalkstein als ´pasta di Praga´ bezeichne.“


Stanislav Růžička  (Foto: Martin Váňa,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Aus einer kleinen Stadt am Ufer des Luganer Sees stammte der Großvater von Johann Blasius Santini. Er kam irgendwann vor dem Jahr 1635 nach Prag. Der Enkelsohn wurde hier in der dritten Generation am 3. Februar 1677 in die Familie des bedeutenden Steinmetzes Santini-Aichel geboren. Wegen einer Körperbehinderung konnte der Erstgeborene allerdings nicht, wie damals üblich, in die Fußstapfen seines Vaters treten. Doch als Architekt machte Santini letztlich eine noch größere Karriere. Stanislav Růžička ist Gründer und Vorsitzender des Vereins „Putování za Santinim“, auf Deutsch etwa „Wandern auf Santinis Spuren“:

„Als Kind lebte Santini in einem Haus unterhalb der Prager Burg, sozusagen im Schatten des Veitsdoms, an dem bestimmt auch mancher seiner Vorfahren gearbeitet hatte. Sein erster Lehrer war der bedeutende französische Maler und Architekt Jean Baptiste Mathey, der gegen Mitte des 17. Jahrhunderts nach Prag kam und hier an einer Reihe von Bauten beteiligt war. Als guter Freund des Vaters Santini-Aichel nahm er dessen talentierten Sohn Johann Blasius in Lehre. Ein anderer bedeutender Lehrer des Jungen war Christian Schröder, Verwalter der Kunstsammlungen auf der Prager Burg und später auch Santinis Schwiegervater. Es ist bekannt, dass Johann Santini eine Ausbildung als Architekt und Maler erhielt. Fundierte Kenntnisse hatte der wissensbegierige Künstler allerdings auch in der Mathematik, vor allem aber in der darstellenden Geometrie. Doch ebenso bewandert war er im Bauwesen.“

Petersdom in Rom  (Foto: Wolfgang Stuck,  Wikimedia Free Domain)
Auf die Lehrjahre folgten drei Wanderjahre: Santini reiste nach Holland und England, aber auch nach Wien und Italien. In Turin machte er sich mit dem Werk des Mathematikers, Philosophen und Architekten Guarino Guarini (1624 – 1683) vertraut. In Rom bestaunte er die Entwürfe von Gian Lorenzo Bernini im Petersdom. Einen besonderen Eindruck auf Santini machte der innovative Architekt Francesco Borromini, der die Architektur von der starren Symmetrie der Renaissance befreite.

1700 kehrte Santini aus Italien nach Prag zurück und bekam mit 23 Jahren seinen ersten Auftrag. Von ausschlaggebender Bedeutung wurde die Begegnung mit Wolfgang Lochner, dem Abt von Zbraslav, damals einer Gemeinde in der Nähe von Prag. Er galt als einer der ersten wichtigen Kunden von Santini. Durch Lochner lernte der Architekt Vertreter weiterer Kirchenorden kennen, vor allem die der Zisterzienser und der Benediktiner. Stanislav Růžička:

Konvent in Prag-Zbraslav  (Foto: Zdeněk Fiedler,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
„Santini hatte viel Mut in seiner Bautätigkeit, aber noch wichtiger war für ihn, dass er das Vertrauen von Investoren aus religiösen und aristokratischen Kreisen gewann. Es handelte sich meist um Altersgenossen, die eine ähnliche geistige Orientierung hatten. Santini war ein Mensch, der die Visionen seiner Kunden umsetzen konnte, doch mit seinen Fähigkeiten ging er auch noch darüber hinaus. Aufgrund seiner Familienzugehörigkeit war er Mitglied der Steinmetze-Zunft, doch die Stadtbaulobby verweigerte ihm den Zugang zum Baumarkt. Die Investoren aus den Kirchenorden mussten jedoch niemanden fragen, wenn sie einen Bauauftrag vergeben wollten. Und so kam es, dass der 23-jährige Santini den Auftrag zum Umbau eines großen Konvents im Prager Stadtteil Zbraslav erhielt. Nach der Fertigstellung wurde er von verschiedenen Kirchenorden nur so mit weiteren Aufträgen überhäuft. Alle Investoren hatten eine gemeinsame Vision: ihren Barockklöstern die ursprünglichen gotischen Baumerkmale zurückzugeben.“

Kloster Sedlec  (Foto: CzechTourism)
Und das war eine Aufgabe, die Santini meisterhaft umzusetzen wusste. Seine Entwürfe kreierte er fast ausschließlich mithilfe eines Zirkels und aufgrund von Kreisausschnitten. Wichtige Bauwerke von ihm stehen unter anderem in Sedlec bei Kutná Hora / Kuttenberg, im westböhmischen Kladruby / Kladrau und in Křtiny bei Brno / Brünn. Wie viele Werke er in Böhmen und Mähren geschaffen hat, lässt sich nicht mehr genau ermitteln. Aufgrund schriftlicher Überlieferungen werden ihm heutzutage beinahe 90 Bauten außergewöhnlicher Qualität zugeschrieben. Mehrere davon gelten als Höhepunkt der europäischen Architektur des Spätbarocks. Die von dem genialen Künstler erfundene Bauweise blieb in seiner Zeit eine einmalige Erscheinung.

Kirche des hl. Johannes von Nepomuk auf dem Grünen Berg  (Foto: Archiv Radio Prag)
Als größte Leistung von Johann Santini wird die Kirche des hl. Johannes von Nepomuk auf dem Grünen Berg in Ždár nad Sázavou / Saar angesehen. 1994 wurde sie in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes eingetragen. Sie wurde auf einem Kreis als Grundform konstruiert, hat aber fünf Ausbuchtungen. Damit wollte Santini auf die fünf Sterne anspielen, die der Legende nach den Leichnam des Märtyrers Johann von Nepomuk umgaben, als er in der Moldau aufgefunden wurde. Im Inneren wiederholt sich die Zahl, so gibt es die fünf Altäre und fünf Gänge, und der Hauptaltar hat fünf Sterne und fünf Engel. In der Umfassung des Gebäudes wechseln sich fünf Kapellen mit dreieckigem Grundriss mit fünf Kapellen in Form eines Ovals ab, und es gibt auch fünf Zugänge zur Anlage. Die Wallfahrtskirche von Ždár war Santinis letztes Bauprojekt.

„Die Kirche entstand innerhalb von zwei Jahren. Für Santini war es eine hektische Zeit, denn er pendelte zwischen acht Baustellen. Im September 1722 wurde die Nepomuk-Kirche geweiht. Im darauffolgenden Frühjahr reiste er schon wieder hin und her zwischen Baustellen in Kladruby und Plasy in Westböhmen, Chlumec in Ostböhmen und mehreren Orten in Mähren. Für ihn war es die letzte Bausaison. An ihrem Ende erkrankte er plötzlich und kehrte nach Prag zurück. Dort verfasste er sein Testament. Zwei Tage später starb er im Kreis seiner Familie“, sagt Stanislav Růžička.

Santini
23 Jahre lang war Santini als Architekt tätig und wurde aber nur 46 Jahre alt. Beigesetzt wurde er in der von ihm persönlich gewählten bescheidenen Johannes-Kirche in Prag-Obora (Prager Kleinseite). Dieses Gotteshaus gibt es heute nicht mehr, schon während der Josephinischen Reformen wurde es aufgegeben. Das weitere Schicksal der Gebeine des Architekten ist bis heute unbekannt.