Gerd Krause: Fremde Heimat - heimatliche Fremde
Heimatvertriebene - sie sind vor allem in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit häufig präsent. Aber wie sieht es aus mit den Heimatverbliebenen? Was bedeutet es, in der eigenen Heimat ein Fremder zu sein, ohne je den eigenen Geburtsort verlassen zu haben? Gerd Krause hat es erlebt. Christian Rühmkorf hat ihn zu Hause besucht.
"Mein Vater wurde 1945 aus dem Transport rausgeholt und in ein so genanntes Internierungslager nach Friedland gebracht. Zuerst sollten wir raus. Dann haben sie ihn gebraucht. Damals gab es ja viele, viele Spezialisten, man kann von weit mehr als Zehntausenden sprechen. Das waren Fachleute, welche die tschechische Regierung in den Fabriken gebraucht hat. Die fremden Leute, die hergekommen sind, die kannten ja nichts hier. Die haben nur die Häuser geplündert und sind wieder ins 'Biehmsche', ins Innland, zurückgegangen. Mein Vater war Schlosser und Elektriker, beides. Zwei Jahre war er interniert, von der Familie weggerissen. Er durfte kein Wochenende heim. Nur die Mutter mit den Kindern konnte ihn immer am Wochenende besuchen. Und als er dann 1947 entlassen wurde, haben sie ihn entlassen mit der Auflage, dass er sich ein Jahr lang jeden Tag um 15 Uhr auf der Gendarmerie meldet, damit er nicht davonläuft. Die Finanzer hatten ihn und seine Familie nämlich schon zwei Mal auf der Tafelfichte geschnappt. Er wollte nach Bad Flintsberg fliehen und mit dem Zug nach Berlin zu seiner Mutter. Zwei mal haben sie ihn erwischt. Na ja, dann hat er aufgegeben. Die Geschwister von Muttis Seite, die wurden alle vertrieben, die sind alle mit den Transporten nach Bayern gekommen."
War der Wunsch zu fliehen und seiner Verwandtschaft zu folgen anfänglich noch stark, so fügte sich Gerds Vater schließlich in sein Schicksal.
"Na ja, mein Vater hat sich dann irgendwie eingelebt. Es war für ihn hart. Er hat sehr oft - wie man sagt - die Zähne zusammenbeißen müssen, aber irgendwie wollte er die Heimat nicht verlassen, obwohl er später dann konnte. Aber er ist hier in den Bergen geblieben."
Für den in die 1950er Jahre hineingeborenen Gerd bedeutete diese Entscheidung einen Spagat. Er war Deutscher, fühlte sich als Deutscher und war doch zugleich Tschechoslowake. Die Spannungen, die daraus erwuchsen, waren immer präsent - in der eigenen Familie und in der Schule.
"Eingeschult wurde ich 1960 in Weißbach an der Tafelfichte in die erste Klasse. Es war halt schwer. Ich konnte zwar von den anderen Kindern etwas Tschechisch - Schimpfworte gingen sehr schnell und gut, wie immer. Mein Vater konnte aber sehr schlecht tschechisch, fast gar nichts. Meine Mutter wiederum konnte beide Sprachen perfekt, also war das nicht so schlimm. Wenn der Vater zur Arbeit war, wenn wir nur mit der Mutter zu Hause waren, konnten wir mit ihr tschechisch sprechen. Wenn der Vater aber zu Hause war, dann mussten wir alle umschalten. Unser Vater war Preuße - in der Beziehung."
Und die Schule? Gerd Krause hatte unter seinen tschechischen Klassenkameraden zwar auch Freunde - dennoch, Deutscher zu sein war ein Stigma.
"Geprügelt wurde ich sehr oft, und beschimpft als Nazi - weiß Gott, weil sie selber keine Ahnung hatten, die Kinder. Aber sie wurden halt wieder von den tschechischen Eltern beeinflusst. Es war nicht leicht. Man hat das sehr stark mitbekommen, dass ich eine deutsche Herkunft habe."
Wäre es unter diesen Umständen für Gerd Krause nicht leichter gewesen, die deutsche Identität aufzugeben, sich anzupassen und einfach "Tscheche" zu werden?
"Es wurde mir schon damals in der achten oder in der neunten Klasse, als wir 15 waren und den Personalausweis kriegten, empfohlen, dass ich das alles auf Tschechisch umändern sollte. Aber das wollte ich natürlich nicht - und das gab wieder Nachteile."
Und so hatte die deutsche Identität in einer tschechischen Lebenswelt ihren Preis. Vor allem, was die schulische und berufliche Laufbahn betraf. Ein Konflikt mit dem Geschichtslehrer wurde Gerd Krause zum Verhängnis - das Tor zum Gymnasium blieb ihm verschlossen.
"In der neunten Klasse ist mir etwas passiert: Im Geschichtsunterricht hat der Lehrer über den zweiten Weltkrieg unterrichtet, und da hat er halt erzählt, wie erfolgreich die Rote Armee war, und dies und jenes und die Partisanen und die Schlacht bei Moskau 1941, und mir hat das nicht gefallen. Da hab ich mich gemeldet und hab gesagt: Herr Lehrer, sie lügen! Es war nicht so, wie sie erzählen! Mein Vater war ja bei Moskau. Damit hab ich mir die Türen zum Studium geschlossen."
Gerd Krause ist seiner deutschen Herkunft bis heute treu geblieben. Er ist Vorsitzender der Ortsgruppe Oberwittigtal des Verbandes der Deutschen in der Region Liberec / Reichenberg, Lausitz, Nordböhmen. Er solle noch etwas für die Heimatverbliebenen tun, hatte damals sein Vater gesagt. Und so war er bereits 1972 in den Deutschen Kulturverband eingetreten. Für die kommunistische Partei ein Dorn im Auge.
"Wir mussten aufpassen auf Vieles. Das kam nach dem Prager Frühling, nach 1968. Denn von 1945 bis 1968 hat ja die tschechische Regierung bekannt gegeben, auch öffentlich im Ausland, dass hier nach der Vertreibung keine Deutschen mehr leben. Obwohl das nicht stimmte. Aber so war das. Also bis 1968 haben wir als Minderheit gar nicht existiert. Erst nach dem Prager Frühling ist das erstmals lockerer geworden. Wir konnten zwar Zusammenkünfte machen, Tanzunterhaltungen, Ausflüge, deutsche Lieder singen usw. Aber wenn etwas los war in irgendeinem Lokal, dann hat das den tschechischen Einheimischen nicht gefallen."
Die Organisation der Heimatverbliebenen hat Kommunismus und Samtene Revolution überstanden. Die Zukunft jedoch ist alles andere als rosig.
"Leider sind die Mitglieder schon alte Leute. Es sind wir paar jüngeren, die das organisieren und führen, aber es sind wirklich nicht viele. Die meisten sind siebzig und aufwärts, ich hab viele achtzigjährige Mitglieder dabei. Über den Sommer veranstalten wir Ausflüge irgendwo in der Heimat hier. Über den Winter treffen wir uns auch jeden Monat in Weißbach an der Badelbaude. Das ist ein schönes Lokal. Und da treffen wir uns immer zum Kaffeeklatsch, zum gemütlichen Beisammensein. Immer etwas mit Musik. Dann gibt es noch einige, die noch sehr gut Mundartgedichte vorlesen. Man redet darüber, wie man so aufgewachsen ist, und man lacht drüber. Es ist halt schön."
Nach der letzten Volkszählung haben sich in Haindorf noch 52 Einwohner zum Deutschtum bekannt. Tendenz sinkend. Das bekommt Gerd Krause auch beim Nachwuchs im Verband zu spüren.
"Also Jugend, Nachwuchs - das kann man alles vergessen. Leider Gottes - wenn ich das jetzt so sagen muss - alles schläft mal ein. Das ist alles nur eine Frage der Zeit. Zehn, fünfzehn Jahre, dann wird von dem Deutschtum hier gar nichts mehr übrig sein. Nur noch die alten Friedhöfe und die Bauwerke und Kirchen, wo noch die deutschen Schriften drauf sind, die deutschen Namen stehen, das wird dann das allerletzte sein."
Auch einige von Gerds Geschwistern sind bereits verstorben, einige leben heute noch in Bayern oder, wie er, in der Tschechischen Republik.
"Mehr oder weniger sind alle verstreut. Zwei Brüder leben noch hier in Böhmen. In Westböhmen lebt der Hagen, bei Mies. Heute heißt das Stribro. Und der Kurt lebt direkt wie man sagt im 'Biehmschen' drin, im Innland, nicht weit von der Stadt Kolin."
Und Gerd Krause? Hat er selbst je daran gedacht, ein unbeschwerteres Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu führen?
"Also freiwillig würde ich diese Ecke hier wahrscheinlich nie verlassen. Heutzutage, wenn ich zwei, drei Wochen weg bin, und ich sehe nicht meinen Nußstein und meine Friedländer Zinne und meinen Keuligen Berg, dann habe ich schon Sehnsucht."