Geschichts-Fiktion von Jáchym Topol – 1968 sollte Böhmen zur „Zirkuszone“ werden

Jáchym Topol (Foto: Jan Rosenauer)

Was wäre wenn… die Tschechoslowaken 1968 gegen die einmarschierenden Warschauer-Pakt-Truppen gekämpft hätten? Der Schriftsteller Jáchym Topol spielt das Szenario in seinem Buch „Zirkuszone“ durch.

Patrick, du stellst heute den Roman eines jüngeren tschechischen Autors, nämlich Jáchym Topol, vor.

„So jung ist Jáchym Topol mit seinen mittlerweile 48 Jahren auch nicht mehr. Aber es stimmt schon, er wird immer noch zur jüngeren tschechischen Schriftstellergeneration gezählt. Vielleicht auch deshalb, weil er umgangssprachlich schreibt. So sprechen auch seine meist kindlichen oder jugendlichen Hauptpersonen. Und das, was sie in Topols Büchern erleben, würde man in Umgangssprache wohl als ‚abgefahren’ bezeichnen. Unter anderem deswegen gilt Jáchym Topol als Kultautor.“

Klingt fast, als sei er ein Berufsjugendlicher. Das Klischee trifft aber Jáchym Topol nicht zu, oder?

Jáchym Topol: ‚Zirkuszone’
„Nein, das bestimmt nicht. Topol ist ein absolut ernstzunehmender Autor. Er hat gewissermaßen Schriftstellergene in sich. Der Großvater war Dichter und Romanautor, der Vater ist ein bekannter Dramatiker. Sein drei Jahre jüngerer Bruder ist als Frontmann einer Underground-Kultband berühmt geworden. Für die Band hat Jáchym Topol übrigens seit Anfang der 80er Jahre Texte geschrieben. Seine künstlerischen Wurzeln liegen also im Untergrund. Jáchym Topol war Dissident. Schon mit 16 Jahren hat er die Charta 77 unterschrieben, er war damit einer der jüngsten Unterzeichner der Charta überhaupt. Und dieses gewisse Rebellentum, das spürt man in Jachym Topols Büchern bis heute. So auch in ‚Zirkuszone’. Der Roman erschien 2007 in deutscher Übersetzung, in einer sehr guten Übersetzung übrigens. Das tschechische Original trägt den Titel ‚Kloktat dehet’, das bedeutet soviel wie ‚Gurgeln mit Teerseife’.“

Zwei ziemlich unterschiedliche Titel für ein und dasselbe Buch…

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
„In der Tat. Und sie stehen gewissermaßen für die zwei ziemlich unterschiedlichen Teile des Buches. Der erste Teil spielt sich in einem Waisenheim in Mittelböhmen ab, in dem der kindliche Ich-Erzähler Ilja zu Hause ist. Das Heim leiten Nonnen, und zu deren Erziehungsmethoden gehört unter anderem das Teerseife-Gurgeln. Das muss ein Kind machen, wenn es gelogen hat. Dann aber werden die Nonnen verhaftet und eine Gruppe kommunistischer Kriegsveteranen übernimmt das Kommando im Waisenheim. Die Kinder erhalten eine Art Partisanen-Ausbildung. Für die meisten ist das alles ein tolles Abenteuer.“

Die Geschichte ist also im Jahr 1948 angesiedelt, als die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei übernahmen.

„Jáchym Topol benutzt im ganzen Buch keine Jahreszahlen, aber man wähnt sich zunächst im Jahr 1948. Und bis hierhin ist ‚Zirkuszone’ eigentlich ein relativ normales Buch, das aber recht überzeugend die emotionale und soziale Verwahrlosung in einem Kinderheim beschreibt. Dann passiert aber etwas Unerwartetes: Die Sowjets marschieren ein und mit ihnen die Truppen von vier weiteren Warschauer-Pakt-Staaten. Wir sind also plötzlich mittendrin im August 1968, in der Niederschlagung des Prager Frühlings. Die Waisenkinder sind aber immer noch Kinder, obwohl schon zwanzig Jahre vergangen sind.“

Da beginnt es dann also „abgefahren“ zu werden?

„Ja, und zwar ziemlich. Denn Topol verdichtet nicht nur die Zeit, er manipuliert auch die historische Wirklichkeit. Anders als 1968 greifen die Tschechoslowaken nämlich zu den Waffen und kämpfen gegen die militärische Übermacht. Es beginnt ein Krieg, in dem Invasionstruppen die böhmischen Dörfer in Schutt und Asche legen, Frauen vergewaltigen und Rebellen hinrichten. Die Hauptperson Ilja ist inzwischen übergelaufen und lotst einen russischen Panzerverband durch das völlig zerstörte Land. Er findet heraus, dass die Soldaten den Auftrag haben, die versprengten Teile eines DDR-Wanderzirkus wieder zusammenzuführen und in der Region eine ‚Zirkuszone’ einzurichten. Es tauchen Giraffen und Kamele auf und Kunstreiterinnen, die wie Amazonen in bunten Kostümen durch die dunklen böhmischen Wäldern galoppieren. Topol vermischt historische Wirklichkeit mit Elementen aus alten böhmischen Märchen. Und er nimmt ironisch den tschechischen Komplex aufs Korn, angeblich nie gegen Besatzer gekämpft, beziehungsweise zu schnell aufgegeben zu haben. Und das alles aus der Sicht eines heranwachsenden Waisenkindes.“

Es steckt also viel drin in Jáchym Topols Buch „Zirkuszone“. Wie lautet denn dein Fazit? Kannst du die Lektüre empfehlen?

„Kann ich. Zwischendurch hat ‚Zirkuszone’ zwar einige Längen. Aber insgesamt ist es ein sehr unterhaltsames Buch. Den meistens Spaß daran werden wohl Leser haben, die sich ein wenig in der tschechischen Geschichte auskennen.“

Wer jetzt Lust auf „Zirkuszone“ von Jáchym Topol bekommen hat: Das Buch ist erschienen im Suhrkamp Verlag und kostet 24,80 Euro.