„Geschwafel“ unterbinden: Initiative für neue Sitzungsordnung im tschechischen Abgeordnetenhaus

Stundenlange Reden und nächtelange Sitzungen – wer als Volksvertreter im tschechischen Abgeordnetenhaus ist, muss viel Zeit opfern für seine Rolle. Das frustriert so einige Parlamentarier. Sie wollen daher nicht mehr wie bisher weitermachen und rufen nach Änderungen.

Markéta Pekarová Adamová | Foto: Zuzana Jarolímková,  iROZHLAS.cz

Es ist der Dienstag in der Woche vor Weihnachten. Ab 14 Uhr treffen sich die tschechischen Abgeordneten letztmals im Jahr. Die Vorsitzende der unteren Parlamentskammer, Markéta Pekarová Adamová, eröffnet die Sitzung. Die Politikerin der Regierungspartei Top 09 ermahnt die Parlamentarier, die sich immer noch unterhalten, ihre Gespräche im Vorraum des Sitzungssaals fortzuführen oder endlich leise zu sein.

Zu Anfang geht es wie immer um die Tagesordnung. Oppositionsführer Andrej Babiš (Partei Ano) beginnt seine Rede. Eine Stunde später steht der Abgeordnete Viktor Vojtko der mitregierenden Bürgermeisterpartei Stan im Vorraum und macht in einem Statement für die Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks seiner Frustration Luft:

Andrej Babiš | Foto: Zuzana Jarolímková,  iROZHLAS.cz

„Aktuell treten Abgeordnete mit vorrangigem Rederecht ans Pult. Sie können aber einfach über das sprechen, was sie wollen. Manche schlagen auch wirklich Punkte vor, über die wir diskutieren und abstimmen sollten. Andere schlagen keine Punkte vor und nehmen dies nur als Show.“

Vorrangiges Rederecht haben die Partei- und Fraktionsvorsitzenden – und das ohne zeitliche Begrenzung. Gerade die jeweilige Opposition nutzt dies häufig dafür, um im tschechischen Abgeordnetenhaus die Abstimmungen über von ihr kritisierte Gesetze hinauszuzögern. Den Bock schoss im vergangenen Jahr Tomio Okamura von der Rechtsaußenpartei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) ab, als er im Januar elf Stunden lang redete. Auch aufgrund solcher Vorfälle hat sich Vojtko entschlossen, bei der Parlamentswahl im Herbst nicht noch einmal zu kandidieren.

Tomio Okamura | Foto: Zuzana Jarolímková,  iROZHLAS.cz

„Es sind vor allem persönliche und familiäre Gründe. Denn ich habe das Gefühl, dass das Abgeordnetenhaus nicht ganz normal funktioniert. Die Sitzungen lassen sich nicht planen. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, hier meine Zeit zu vergeuden“, so der 46-jährige Parlamentarier aus Šumperk / Mährisch Schönberg.

Auch weitere Abgeordnete sind sehr ernüchtert von der Realität in der Parlamentskammer und wollen ihr Abgeordnetenmandat nicht mehr verteidigen – so zum Beispiel Martina Ochodnická (Top 09):

Martina Ochodnická | Foto: Karolína Němcová,  Tschechischer Rundfunk

„Der wichtigste Grund sind meine drei Kinder, die fünf, 13 und 14 Jahre alt sind. Der zweite Grund liegt darin, dass sich die Zeiten im Abgeordnetenhaus vom einen auf den anderen Tag ändern können. Selbst wenn sich allgemein meine Aufgabe als Abgeordnete mit der Familie vereinbaren ließe, spricht immer noch die unvorhersehbare Dauer der Sitzungen dagegen.“

Ochodnická und Vojtko stehen aber auch hinter einer Initiative, um die Sitzungsordnung des tschechischen Abgeordnetenhauses zu verändern. Sie wurde von der Piratenpartei vorgelegt. Wie deren Fraktionsvorsitzender Jakub Michálek Ende November in einem Video auf dem Kurznachrichtendienst X erläuterte, habe seine Partei zuvor drei Jahre lang vergeblich versucht, eine entsprechende Initiative innerhalb der Regierungskoalition zu starten. Nachdem die Piraten jedoch Ende September das Kabinett verlassen hätten, sei die Gelegenheit gekommen…

Jakub Michálek | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

„Wir haben uns entschlossen, das zu machen, was die anderen Regierungsparteien die ganze Zeit blockiert haben. Und zwar einen Beschluss über eine neue Sitzungsordnung vorzulegen, sodass die Redezeit begrenzt wird auf maximal eine oder eine halbe Stunde im Fall des vorrangigen Rederechts und nicht das Programm der Sitzung blockiert werden kann“, so Michálek.

Die aktuelle Sitzungsordnung stammt noch von 1995 und bietet relativ viele Freiheiten. Lange Zeit wurde dies nicht missbraucht. Wie der Verfassungsrechtler Jan Kysela von der Prager Karlsuniversität jedoch vor einigen Wochen im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen erläuterte, haben sich die Gepflogenheiten seit 2010 gewandelt. Und zwar mit der Gründung zahlreicher neuer Kräfte, die das ursprüngliche politische Gefüge auseinanderrissen. Da die Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses nicht ausreichend durchgreifen würden, selbst wenn sie könnten, empfiehlt er das deutsche oder österreichische Modell:

Jan Kysela | Foto: Jana Přinosilová,  Tschechischer Rundfunk

„Dort wird je nach Bedeutung des Tagesordnungspunktes die Länge der Redezeit festgelegt. Diese Zeit wird im Verhältnis auf die Fraktionen aufgeteilt, wobei die Opposition im Vorteil ist. Die Fraktionen schicken dann ihre Redner ans Pult. Und wenn diese ihre Standpunkte vorgetragen haben, gelten die Meinungen als gesagt, und es kann zur Abstimmung übergegangen werden.“

Im tschechischen Abgeordnetenhaus darf hingegen jeder Parlamentarier ans Rednerpult treten und seinen Standpunkt vortragen – und das auch noch mehrfach. Diejenigen ohne vorrangiges Rederecht müssen allerdings beim Thema bleiben.

Marek Benda | Foto: René Volfík,  iROZHLAS.cz

Verfassungsrechtler Kysela merkte allerdings im Oktober an, dass bisher unter den tschechischen Parteien keine Mehrheit für eine besser gelenkte parlamentarische Kultur bestehe. Dabei finden sich die Befürworter von Änderungen im gesamten politischen Spektrum. Zu ihnen gehört etwa auch Marek Benda, der Fraktionsvorsitzende der Bürgerdemokraten und damit der stärksten Regierungspartei:

„Das Abgeordnetenhaus beschäftigt sich ein Viertel der Zeit allein mit der Tagesordnung, das ist nicht normal. Dabei werden noch nicht einmal Vorschläge für das Programm eingebracht, sondern es handelt sich – um einen milderen Ausdruck zu verwenden – um das Geschwafel von manchen Vertretern der Opposition. Das ist wirklich sehr unglücklich.“

Alena Schillerová | Foto: Zuzana Jarolímková,  iROZHLAS.cz

Selbst die Opposition zeigt sich bereit, über das Thema zu reden. Allerdings will sie anscheinend den aktuellen Vorschlag nicht unterstützen.

„Wir sind immer aufgeschlossen, uns darüber zu unterhalten und über die Parteigrenzen hinweg eine Einigung zu finden. Voraussetzung ist aber, dass dies erst ab der nächsten Legislaturperiode gilt und nicht mitten in der laufenden Legislaturperiode“, sagt Alena Schillerová, die Fraktionsvorsitzende der Partei Ano.

Richtig überzeugend klingt das nicht. So ist es kein Wunder, dass bisher noch alle Versuche fehlgeschlagen sind, die Sitzungsordnung des tschechischen Abgeordnetenhauses zu ändern.

Autoren: Till Janzer , Eva Soukeníková | Quellen: Český rozhlas , Česká televize
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