Gespaltene Generation: Sogenannte Husák-Kinder sind Tschechiens einflussreichste Bevölkerungsgruppe
Laut der Volkszählung von 2021 bilden die sogenannten Husák-Kinder die mit Abstand größte Generationsgruppe in Tschechien. Diese Bezeichnung bezieht sich im inoffiziellen Sprachgebrauch auf all jene, die in den 1970er Jahren geboren wurden – also dem ersten Jahrzehnt, in dem Gustav Husák an der Spitze der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) stand. Dabei ist gerade diese Generation gar nicht so homogen, wie es der Volksmund vermuten lässt. Vielmehr befinden sich die heutigen Mittvierziger in ganz unterschiedlichen Lebens- und Familiensituationen. Ausschlaggebend ist dabei, wie sie das Umbruchsjahr 1989 erlebt haben.
Sie sind viele, und sie sind auf dem Höhepunkt ihres produktiven Lebens. Dadurch beeinflussen die Husákovy děti, also die sogenannten Husák-Kinder, in besonderer Weise das Geschehen in Tschechien. Martin Buchtík, Chef des Meinungsforschungsinstituts Stem, kann dies genauer beziffern:
„An dieser Generation ist interessant, dass sie zahlenmäßig so stark ist. Es mag gar nicht so scheinen, aber hierzulande leben jeweils 190.000 Menschen im Alter von 43 oder 44 Jahren. Von den 22- oder 23-Jährigen sind es hingegen nur jeweils 90.000. Die Husák-Kinder waren, sind und werden weiter sehr sichtbar sein. Und sie sind stark vertreten etwa in der Kultur, aber auch in Politik und Wirtschaft.“
Gustav Husák war von 1969 bis 1987 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und 1975 bis 1989 tschechoslowakischer Präsident. In den ersten Jahren seiner Amtszeit wurden spezielle sozialpolitische Maßnahmen eingeführt, die die Geburtenrate im Land anheben sollten. So wurden etwa das Geburts- sowie das Kindergeld erhöht, der Mutterschaftsurlaub verlängert und die Elternzeit eingeführt. Dies führte schnell zu dem gewünschten Effekt: In der ersten Hälfte der 1970er Jahre kamen im Durchschnitt jährlich etwa 40.000 mehr Kinder zur Welt als im Jahrzehnt zuvor.
Kein wissenschaftlich anerkannter Begriff
Im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnen sich auch Menschen, die Anfang der 1980er Jahre geboren sind, noch als Husák-Kinder. Schließlich zog sich dessen Amtszeit auch noch durch dieses Jahrzehnt. Die Wissenschaft aber grenzt diese Generation zeitlich viel stärker ein. Der Historiker Jakub Rákosník vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Prager Karlsuniversität möchte sie auch nicht nach dem KPTsch -Funktionär benennen:
„Husák-Kinder ist kein exakt formulierter Begriff. In der Wissenschaft wird er nicht verwendet, denn er dient einer eher willkürlichen Zuordnung. Am genauesten lässt sich die betreffende Generation mit den Jahren 1970 und 1971 auf der einen Seite sowie 1975 bis 1977 auf der anderen Seite eingrenzen. Der Höhepunkt der Geburtenwelle trat nämlich 1974 ein, danach schwächte sie wieder ab.“
Im besagten Rekordjahr 1974 kamen im tschechischen Teil der ČSSR mehr als 194.000 Kinder zur Welt. So viele Geburten hatte es hier seit 1948 nicht mehr gegeben.
Auch bei der engeren zeitlichen Einordnung auf etwa sieben Jahrgänge bilden die Husák-Kinder heute keine so einheitliche soziologische Gruppe, wie man es vermuten könnte. Ihre Kindheitsjahre haben sie zwar noch unter den gleichgeschalteten Bedingungen der sogenannten Normalisierung verbracht. Ausschlaggebend für ihren Weg im Erwachsenenalter wurde dann aber das Jahr 1989. Die sozialen Veränderungen, die mit dem Ende des Sozialismus einhergingen, hätten sich innerhalb dieser Generation besonders stark gezeigt, sagt Rákosník:
„Die Menschen aus dem starken Jahrgang 1970 haben oft früh geheiratet und schon mit 20 eine Familie gegründet. Die späteren Husák-Kinder sind hingegen erst in den 1990er Jahren erwachsen geworden, und für sie wurde eine späte Familiengründung typisch. Die demografische Kurve der tschechischen Gesellschaft belegt, dass es damals einen Bevölkerungsrückgang gab.“
Grund dafür war die Öffnung der Gesellschaft und der Wirtschaft. Plötzlich hätten sich, so der Historiker, den jungen Erwachsenen viel mehr Alternativen für die Lebensgestaltung geboten:
„Nach dem demografischen Rückgang, den sogenannten Havel-Kindern, kam es in den Jahren 2006 bis 2008 zu einem neuen Geburtenanstieg. Dies sind die Kinder der Husák-Mädchen. Wenn der Sozialismus nicht zu Ende gegangen wäre, hätten diese Frauen ihre Kinder schon in den 1990er Jahren bekommen. Sie haben die Familiengründung damals aber aufgeschoben, und um das Jahr 2008 herum standen sie vor der Wahl, jetzt ein Kind zu bekommen oder gar nicht mehr.“
Letzte Generation mit gemeinsamer Popkultur
Nicht nur die Familiengründung wurde stark davon beeinflusst, in welcher Lebensphase die Husák-Kinder die Samtene Revolution erlebten. Auch für unterschiedliche Bildungsbereiche habe dies eine Rolle gespielt, erläutert Soziologe Buchtík:
„Mit der Frage, ob jemand zur Zeit der Revolution zehn oder 20 Jahre alt war, hängen einige wichtige Dinge zusammen – zum Beispiel, wie gut der Betreffende Englisch kann. Dies ist in Tschechien an sich nicht sehr verbreitet. Wer heute 40 oder 42 Jahre alt ist, hat meist grundlegende Kenntnisse. Aber nur 30 Prozent von ihnen haben ein gutes Niveau. Unter den 50-Jährigen sind es hingen nur knapp 15 Prozent, die gut Englisch sprechen. Entscheidend dafür ist, ob man die Sprache erst als Erwachsener oder aber schon in der Schule gelernt hat. Dies spielte dann auch eine große Rolle bei der Arbeitssuche.“
1989 und die folgenden Jahre haben also zu ganz verschiedenen Karrieren und daraus folgend zu sehr unterschiedlichen Lebensstandards geführt. Trotzdem hatte diese Zeit auch etwas Verbindendes. So hat das aktive Erleben des politischen Umbruchs die Husák-Kinder nachhaltig geprägt. Und noch etwas hätten sie gemein, so Buchtík:
„Sie bilden eine der letzten Generationen, die eine gemeinsame Popkultur haben. Für sie existierten nur einige wenige Bands und drei Fernsehprogramme. Also sahen sie alle in den 1990er Jahren dieselben Sendungen, aus denen jeder noch zitieren kann. Im Gegensatz dazu ist die heutige junge Generation stark zersplittert, denn sie konsumiert viel größere Mengen an popkulturellen Inhalten. Die Husák-Kinder haben diesbezüglich noch eine gemeinsame Sprache.“
Für Jakub Rákosník besteht nicht nur ein großer Generationsunterschied darin, womit sich Kinder und Jugendliche beschäftigen. Bei der Freizeitgestaltung habe sich seit Husák auch die örtliche und zeitliche Dimension deutlich verschoben, meint der Historiker:
„Die heutigen Jugendlichen haben im Vergleich zu den Husák-Kindern einen ganz anderen Umgang mit der Zeit. Ich selbst bin in den 1980er Jahren aufgewachsen und habe viel Zeit draußen verbracht. Im Park saßen überall die Grüppchen auf den Wiesen – erst haben wir dort gespielt, später geraucht und getrunken. Das gibt es heute nicht mehr, Kinder und Jugendliche sind aus den Parks verschwunden. Ihr Leben hat sich mit der aufkommenden Computertechnik in die Privaträume verlagert. Und soziale Kontakte pflegen sie auf ganz andere Art, als es für uns in den 1980er Jahren typisch war.“
Fleißige Wähler
Familienmodell, Bildungsgrad, Freizeitgestaltung – in so ziemlich allen Bereichen des Privatlebens haben die Husák-Kinder grundlegende Veränderungen erlebt. Die Wende von 1989 habe sich gerade auf diese Generation so stark ausgewirkt, weil sie bei ihr in den prägenden Jahren des Erwachsenwerdens stattgefunden hat, konstatiert Pavel Maškarinec. Der Politologe der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem / Aussig führt aus, dass diese Erfahrung sich nicht zuletzt auch auf die politischen Präferenzen und das Wahlverhalten ausgewirkt habe:
„Dies zeigt die Entwicklung der Wahlbeteiligung entlang der Generationen. Die Erstwähler um die 20 gehen heute fast gar nicht wählen. Dies ist leicht anders in der Altersgruppe ab 25 Jahren, und ab 35 steigt die Wahlbeteiligung steil an. Die Menschen zwischen 45 und 55 Jahre sind die stärkste Wählergruppe, ein Großteil dieser Generation geht also regelmäßig an die Urnen. Dadurch übt sie einen deutlichen Einfluss auf die Wahlen aus.“
Komplizierter sei da schon die Frage, wem die Husák-Kinder ihre Stimme geben würden, fährt Maškarinec fort. Weil sie den Sozialismus in jungen Jahren noch selbst erlebt haben, hätten sie wenige Sympathien für Parteien mit dieser Ausrichtung. Für die Festigung ihrer politischen Haltung habe der Übergang zur Demokratie gesorgt, der in Tschechien unter eher konservativen Vorzeichen vonstattengegangen sei, so der Politologe:
„Wie andere Generationen auch sind die Husák-Kinder keine homogene Einheit. Es lässt sich also nicht sagen, dass sie übereinstimmend nur eine politische Richtung vertreten. Andererseits kann man aber etwas vereinfacht Bezug darauf nehmen, dass ein Großteil dieser Generation den Fall des Kommunismus bewusst miterlebt hat. Viele von ihnen sind damals noch zur Schule gegangen, manche hatten gerade das Studium begonnen. Und eben viele Studenten haben sich an den Ereignissen 1989 auch aktiv beteiligt. Dadurch wählt ein großer Teil dieser Generation noch heute tendenziell Mitte-Rechts-Parteien.“
Damit dürften die Husákovy děti einen bedeutenden Anteil gehabt haben am Regierungswechsel, der in Tschechien nach den letzten Abgeordnetenhauswahlen im Herbst 2021 stattfand. Diese spezielle und zahlenmäßig so starke Generation übt ihren Einfluss aber nicht nur durch das aktive Wahlrecht aus. Einige der Husák-Kinder haben es sogar bis in die höchsten politischen Ämter gebracht. Im aktuellen Kabinett stammen immerhin sechs von 18 Mitgliedern aus den starken Jahrgängen der frühen 1970er Jahre.