Getrennte Wege ohne Slowaken: 20 Jahre Tschechische Republik

Vor genau 20 Jahren haben Tschechen und Slowaken politisch ihre eigenen Wege eingeschlagen. Die Trennung des gemeinsamen Staates wurde sehr zügig innerhalb eines halben Jahres vollzogen. Wie nahmen damals die Staatstrennung und die Entstehung von Tschechischer und Slowakischer Republik auf? Und was denken die Menschen – politische Akteure wie Bürger - heute über diesen Schritt, der am 1. Januar 1993 vollendet wurde?

Václav Klaus  (Foto: Archiv ČRo 7)
Mit Jahresbeginn sind die Slowakei und Tschechien jeweils 20 Jahre alt geworden. Doch kaum jemand käme auf die Idee, dies mit einem Feuerwerk zu feiern. Man muss sagen: immer noch nicht. Denn schon die Gründung der Tschechischen Republik am 1. Januar 1993 ging zumindest in Prag relativ emotionslos über die Bühne. Natürlich gab es eine Feierstunde im tschechischen Parlament, auch ein feierliches Konzert. Aber der tschechische Regierungschef Václav Klaus sagte damals aus Anlass des Konzerts:

„Wir begehen am heutigen Tag eine nüchterne Feier, die ohne Kanonendonner, Feuerwerk und Begeisterung der Massen auskommt. Nicht nur weil viele von uns etwas an der untergehenden Tschechoslowakei hängen. Sachlichkeit und Nüchternheit gehören, wie ich finde, zu unserem Volkscharakter. Deswegen sollten wir stärker an die Arbeit denken, die uns alle erwartet, als an die Feier. Der gerade entstandene tschechische Staat bedeutet eine Aufgabe, die wir erst einmal meistern müssen, auch wenn wir dabei an gewisse Dinge anknüpfen können.“

Milan Uhde  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Der Vorsitzende des tschechischen Parlaments, Milan Uhde, betonte damals, der gemeinsame tschechoslowakische Staat habe „angeborene Fehler“ gehabt. In seiner offiziellen Rede zur Entstehung der eigenständigen Tschechischen Republik sagte Uhde unter anderem:

„Drei Jahre nach dem November 1989 hat sich gezeigt: Der Versuch einer gemeinsamen Existenz unserer Völker hielt stand, als er mehrfach in der Vergangenheit vor allem von außen bedroht wurde. Er misslang aber, als wir nur noch uns selbst und unserer Freiheit überlassen waren. Es lag nicht in den Kräften der Politiker, den Zerfall zu verhindern. Er vollzog sich deutlich seit der November-Revolution. Ich war direkter Zeuge und bestätige, dass geschehen ist, was geschehen musste.“

Doch viele Tschechen und auch viele Slowaken waren damals anderer Meinung. Von den Politikern wurden sie nicht gefragt, ob sie lieber weiter einen gemeinsamen Staat wollen oder die Trennung. Eine Volksbefragung hätte unter Umständen den Konflikt noch mehr angeheizt, war die Befürchtung. Denn zu welchem Ergebnis hätte man kommen sollen, wenn es im tschechischen und slowakischen Teil jeweils unterschiedliche Mehrheiten gegeben hätte? Spätere Umfragen ergaben aber, dass vor allem die Tschechen damals mehrheitlich gegen die Trennung waren.


Tschechoslowakei  (1919) | Foto:  Wikimedia Commons,  public domain
Seit 1990 hatte es jede Menge Scharmützel um die Koexistenz im gemeinsamen Staat gegeben. Das Problem ergab sich schon aus der Größe beider Teile: Zehn Millionen Tschechen standen nur fünf Millionen Slowaken gegenüber. Der westliche Teil war wirtschaftlich weiter entwickelt als der östliche. Eine positive Idee des Staates wurde nie formuliert, die Entstehung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 war vor allem eine Abgrenzung gegenüber den großen Nachbarvölkern wie den Deutschen und Ungarn.

Letztlich gelten als Hauptakteure der Staatstrennung Václav Klaus als damaliger tschechischer Premier und Vladimír Mečiar als slowakischer Ministerpräsident. Die beiden Regierungschefs der Teilrepubliken einigten sich am 8. Juli 1992, zwei eigenständige Staaten zu gründen. Vor einigen Wochen gab Václav Klaus dem öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen ein Interview zum Thema Staatstrennung. Gefragt wurde er, ob ihm der Schritt von damals nicht leid tue. Klaus antwortete, dies seien „Tränen über verschüttete Milch“.

Václav Klaus mit Vladimír Mečiar  (Foto: ČT 24)
„Heute, mit zeitlichem Abstand, scheint mir, dass der gemeinsame Staat ein kleiner Ausreißer in unserer Geschichte war. Damals habe ich das anders gesehen, ich wurde dort hineingeboren und habe die Tschechoslowakei als Konstante betrachtet. Zurückbetrachtet sehe ich, dass es keine historischen Voraussetzungen für den gemeinsamen Staat gegeben hat. Zumindest waren sie deutlich geringer, als es mir selbst als einfachem tschechoslowakischem Bürger noch erschien. Ich möchte aber nicht darüber polemisieren, was sich die Bürger damals in der Slowakei gewünscht haben. Aber die politischen Vertreter aller damaliger slowakischer Parteien hatten nur ein Ziel: erstmals in der Geschichte einen eigenen freien Staat zu gründen. Es war nutzlos, darüber zu diskutieren.“

Milan Kňažko  (Foto: Tomáš Vodňanský,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Milan Kňažko war 1992, also noch vor der Gründung des eigenständigen Staates, Außenminister der Slowakei. Auch das war eine Besonderheit und deutete auf die Probleme im politischen Zusammenleben beider Länder: Schon 1990 schuf der östliche Landesteil eine eigene Vertretung in auswärtigen Angelegenheiten, erst 1992 zog auch der tschechische Teil nach. Über die damaligen Alternativen sagte Kňažko im Herbst bei einer Konferenz in der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Prager Karls-Universität:

„Die entscheidenden politischen Kräfte, die damals verhandelten, die HZDS von Mečiar und die ODS von Klaus, wollten eigentlich die Tschechoslowakei gar nicht teilen. Das wollte nur eine kleine Gruppe von Extremisten. Wir aber trafen uns, um zu besprechen, wie es weiter gehen soll. Wir wollten ein Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Kompetenzen finden und das unglaubliche Chaos mit drei Regierungen und drei Parlamenten entwirren. Wir wollten alle einen gemeinsamen Staat. Aber wir haben nach dem Weg dorthin gesucht. Die Fragen lauteten: Wie erhält die föderale Regierung ihre Legitimation, wer soll sie bilden und welche Rechte soll sie haben? Und darin haben wir keine Übereinstimmung gefunden. Ich war bei allen Verhandlungen dabei. Schließlich war es Václav Klaus, der nach vielen erschöpfenden Monaten sagte, als wir aus Verzweiflung bereits eine Konföderation vorgeschlagen hatten: Lieber zwei souveräne Staaten als irgendwelche Experimente. Und so kam es dann auch.“

Kňažko verteidigt heute die Teilung des Staates. Niemals habe es bessere Beziehungen zwischen Tschechen und Slowaken gegeben als heute, findet der frühere Politiker und Schauspieler:

„Wir müssen uns nicht mehr mit den Befürchtungen einer Konfrontation und Konflikten herumschlagen. Die Gründe dafür sind verschwunden. Der kulturelle Austausch war niemals intensiver als nach der Staatstrennung.“

Doch einige Politiker, die damals gegen die Teilung gewesen waren, merken an, dass es auch anders hätte kommen können. Einer dieser Kritiker ist der ehemalige tschechische Senatsvorsitzende Petr Pithart, der 1990 bis 1992 tschechischer Premier war. Er sagte bei der Konferenz in der Prager Karls-Universität:

Petr Pithart  (Foto: Marián Vojtek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Die Teilung der Tschechoslowakei war damals ein außerordentlich riskantes Unterfangen. Das hat sich damals nur eine Minderheit der Politiker und Journalisten bewusst gemacht. Die Sowjetunion ist unter Gewaltanwendung auseinandergefallen, Jugoslawien fiel auseinander und es fielen die ersten Schüsse in diesem Land, in dem die meisten Menschen sagten, das hätten sie sich nie vorstellen können. Damit will ich nicht sagen, dass wir und die Slowaken vielleicht übereinander hergefallen wären. Die mährisch-slowakische Grenze ist von allen Grenzen in Europa am wenigsten umstritten, am stabilsten und am ältesten. Aber längere Zeit sah es nicht gut aus. Die Slowakei durchlebte nach der Trennung fünf schwere Jahre, sie stand nicht mehr auf der Liste der zukünftigen EU-Mitglieder, mit dem Nato-Beitritt wurde auch nicht gerechnet. Selbst große europäische Staatsmänner bezeichneten die Slowakei als schwarzes Loch in Mitteleuropa. Dann gelang den Slowaken ein Wunder. Gegen alle Wahrscheinlichkeiten mobilisierten sie die bürgerliche Gesellschaft.“

Traditionelles tschechisch-slowakisches Treffen  (Foto: Archiv des Abgeordnetenhauses der Tschechischen Republik)
Also doch alles in Ordnung? Der frühere christdemokratische Politiker verneint:

„Wir haben immer in einem Haus gelebt, in dem wir nicht alleine waren. Im Jahr 1938 war die Tschechoslowakei der Staat mit dem größten Anteil an Minderheiten, obwohl Tschechen und Slowaken damals als ein Volk gezählt wurden. Es waren 33 Prozent. Heute ist die Tschechische Republik der ethnisch homogenste Staat in Europa, der reinste oder man könnte auch sagen: der am stärksten gereinigte. Wir haben natürlich nicht in allen Fällen aus eigenem Verschulden die ethnische Vielfalt verloren. Aber heute ist vielleicht nur Island ethnisch noch homogener. Viele Menschen werden sagen: Warum denn nicht? Ich bin überzeugt, dass allein die Buntheit kulturell und geistig fruchtbar ist. Die Homogenität hat uns verarmt und wird uns weiter verarmen. Wir haben nach Tausend Jahren die Form unserer Existenz geändert. Wir werden sehen, was das mit uns anstellen wird. Ich denke, die bisherigen Ergebnisse sind nicht gerade überwältigend.“


Foto: Kristýna Maková
Mit dem getrennten Leben haben aber immer mehr Menschen in beiden Staaten ihren Frieden geschlossen. Überwog damals noch die Ablehnung, hat sich innerhalb von zwei Jahrzehnten die Meinung häufig gewandelt, wenn auch nicht immer. Dies bestätigen auch Passanten in der Prager Innenstadt bei einer kleinen Umfrage unter älteren Tschechen. War die Trennung also ein vernünftiger Schritt? Ein Mann stimmt zu:

„Na sicher, das sehen wir ja heute: Alles funktioniert bei den Slowaken und bei uns, kein Problem. Damals habe ich die Trennung für schlecht gehalten, aber die Zeit belehrt uns, dass es gut war.“

Anders sieht dies Milan, 62 Jahre alt:

„Ich bin nicht der Meinung, ich war immer dagegen. Heute mag das vielleicht effektiv sein, aber damals habe ich das nicht so gesehen.“

Ein weiterer Prager, Jan, erzählt, wie sich seine Ansicht gewandelt hat:

„Es war wohl eine vernünftige Lösung, das hat zumindest die anschließende Entwicklung gezeigt. Beide Staaten konnten jeweils ihre eigene Kultur erhalten und ihre Wirtschaft entwickeln, zugleich blieben die freundschaftlichen Bande bestehen. In dem Sinn war die Trennung ideal, auch wenn ich damals mit ihr nicht übereingestimmt habe, weil ich in der Slowakei viele Freunde habe und mir schien, dass uns durch das Ende der früheren Tschechoslowakei ein sehr grundlegender Teil unseres Gefühlslebens verloren ging. Aber heute finde ich, dass die Trennung keinerlei Hindernis ist.“

Foto: Europäische Kommission
Auch eine repräsentative Umfrage von führenden Meinungsforschungsinstituten aus Prag und Bratislava bestätigt einen Meinungswandel. Von den Slowaken, die 1993 mindestens 18 Jahre alt waren, haben damals nur 29 Prozent die Trennung befürwortet. Heute sind es 65 Prozent. Bei den Tschechen gibt es eine ähnliche Entwicklung, wenn auch nicht ganz so deutlich. Waren 1993 nur 33 Prozent dafür, sind es heute immerhin 46 Prozent.