Gewinnbringende Liaison: Die kunstliebende Familie Binko und der Architekt Josef Gočár

Josef Gočár und Josef Binko

Josef Gočár (1880-1945) war einer der führenden Vertreter der modernen tschechischen Architektur. Am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn stand die sogenannte „Rote Villa“, die er Anfang des 20. Jahrhunderts für den kunstliebenden Unternehmer Josef Binko baute. Sie steht im Ort Krucemburk auf der Böhmisch-Mährischen Höhe. Eine neue Ausstellung beschäftigt sich mit den Beziehungen der Familie Binko zu Architekt Gočár. Die Schau wurde vergangene Woche im Ostböhmischen Museum in Pardubice eröffnet. Kuratiert wurde die Ausstellung von Marie Fiřtová, Simona Binko und Jitka Škopová. Martina Schneibergová hat während der Vernissage mit zwei der Kuratorinnen gesprochen.

Marie Fiřtová und Simona Binko | Foto: Věra Přibylová,  Tschechischer Rundfunk

Frau Fiřtová, Frau Binko, Sie haben beide mit der Unterstützung der dritten Kuratorin Jitka Škopová die Ausstellung zusammengestellt, die unter anderem die Beziehung zwischen der Unternehmerfamilie Binko und Architekt Gočár beschreibt. Frau Fiřtová, wie sind Sie mit Josef Gočár verwandt?

Fiřtová: „Ich bin Urgroßenkelin von Josef Gočár. Die Beziehung zwischen dem Architekten und der Familie Binko war am Anfang professioneller und später auch familiärer Art. Gočár und die beiden Brüder Binko haben die drei Schwestern der Familie Chlad aus Pardubice geheiratet. Damit ist eine Verbindung zwischen Binkos und Gočárs entstanden.“

„Man kann sagen, dass die Rote Villa am Anfang von Gočárs Karriere als Architekt stand.“

Binko: „Ich bin Simona Binko und Urenkelin von Dušan Binko. Er war der jüngere Bruder von Josef Binko, von dem die Ausstellung hauptsächlich handelt.“

Womit haben sich die Brüder Binko beschäftigt, und welcher Zeitraum wird in der Ausstellung dokumentiert?

Binko: „In unserer Ausstellung konzentrieren wir uns vor allem auf den Anfang oder fast die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Binkos betrieben in Krucemburk eine Fabrik für Lederverarbeitung. Ursprünglich führte Familie Skřivan das Unternehmen, Eduard Binko war der erste aus meiner Familie, der die Fabrik leitete. Er starb 1904. Und da fängt die Geschichte, die in der Ausstellung beschrieben wird. Die Gerberei war ein Motor für die ganze Entwicklung. Die Brüder Binko haben die Kunst geliebt, sie wurden mit Kunst erzogen, sie sind durch die Welt gereist, haben im Ausland studiert. Sie beauftragten Architekt Josef Gočár, die sogenannte Rote Villa für sie in Krucemburk zu bauen.“

Rote Villa in Krucemburk | Foto: Nationalinstitut für Denkmalpflege

Fiřtová: Man kann sagen, dass die Rote Villa am Anfang von Gočárs Karriere als Architekt stand. Die Villa ist in den Jahren 1907 bis 1909 entstanden – und das in Zusammenarbeit mit Künstlern wie beispielsweise Vojtěch Sucharda und Marie Teinitzerová und anderen, die viele Kunstobjekte in die Villa mitgebracht haben. Die Ausstellung ist konzipiert wie ein Besuch in der Villa. Das sieht man an verschiedenen Details. Wir wollten nicht unbedingt die architektonischen Pläne zeigen, die etwas langweilig sind, sondern Design und Motive, die sich überall in der Villa befinden und die dort eine große Rolle spielen.“

Man sollte vielleicht erwähnen, dass die Villa bis heute steht…

„Wenn alles, was geplant wurde, gebaut worden wäre, hätte man die ganze architektonische Entwicklung – von den Anfängen der geometrischen Sezession über den Kubismus bis zum Funktionalismus – in Krucemburk sehen können.“

Binko: „Ja, genau. Die Villa steht bis heute in Krucemburk. Sie wurde vom kommunistischen Regime nie konfisziert und gehörte die ganze Zeit meiner Familie. Bis heute lebt sie in der Villa, deswegen ist sie nicht öffentlich zugänglich. Vielleicht ist sie auch darum nicht so bekannt – als erstes Gesamtkunstwerk von Josef Gočár. In Krucemburk steht nicht nur die Rote Villa, sondern Josef Gočár hat sich auch an der Gestaltung der sogenannten ,Weißen Villa‘ beteiligt, die der Architekt Václav Roštlapil gebaut hat. Gočár als sein Schüler kam erst später dazu und hat sie modernisiert. Wäre der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen, hätte es in Krucemburk noch eine kubistische Veranda beim sogenannten ,Alten Haus‘ gegeben. Das wäre wunderbar gewesen, denn das kann man sich in diesem kleinen Städtchen gar nicht vorstellen. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Josef Gočár hatte in den 1930er Jahren noch einen Bau für Krucemburk geplant. Es sollte eine Turnhalle des Turnvereins Sokol sein, und das bereits im funktionalistischen Stil. Wenn alles, was geplant wurde, gebaut worden wäre, hätte man die ganze architektonische Entwicklung – von den Anfängen der geometrischen Sezession über den Kubismus bis zum Funktionalismus – in Krucemburk sehen können. Dazu ist es leider nicht gekommen.“

Rote Villa in Krucemburk | Foto: Ondřej Přibyl,  Tschechischer Rundfunk

Kann man sich in der Ausstellung eine Vorstellung davon machen, wie es in der Roten Villa ausgesehen hat?

Fiřtová: Ja, ein wenig schon. Es gibt da historische Fotografien und dazu noch einige Möbel, die sich entweder bis heute in der Villa oder in verschiedenen Museen und anderen Institutionen befinden. Gezeigt wird beispielsweise ein Teil des Tisches, den Josef Gočár für Josef Binko entworfen hat. Zu sehen sind auch Beispiele von Kunstwerken, von denen die Familien Binko und Gočár umgeben waren. Für uns war interessant zu erfahren, welche Stücke sich in den beiden Teilen der Familie befanden. Beide haben beispielsweise Vasen von Pavel Janák gesammelt. Hier sieht man, wie das funktionierte: Marie Gočárová ist mit ihrer Schwester Terezie Binko ins Geschäft Artěl (Künstlergenossenschaft tschechischer Avantgardekünstler, Anm. d. Red.) gegangen, dort haben sie etwas gekauft – und seitdem befindet es sich in der Familiensammlung.“

Ausstellung „Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Binko: „Zu den Möbeln könnte man noch anmerken, dass Jiří Gočár – der Sohn von Josef Gočár – in den 1940er Jahren ein Zimmer in der Roten Villa umgebaut hat. Das ist in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Jiří Gočár wird eher als Architekturtheoretiker gesehen. Hier zeigen wir einen Sessel aus diesem Zimmer.“

Fiřtová: „Wenn wir über Möbel sprechen, muss noch etwas zu den Prager Werkstätten gesagt werden. Diese entstanden 1912 waren ein Synonym für den tschechischen Kubismus. Alle Möbelstücke sind sehr künstlerisch gestaltet. Wenn es Josef Binko nicht gegeben hätte, hätten die Prager Werkstätten nie den Ersten Weltkrieg überleben können. Binko hat die ganze Zeit mit seinem Business-Knowhow Gočár geholfen. Er hatte viele Ideen, um die Firma durch die wilden Zeiten zu bringen.“

„Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Lässt sich sagen, dass Josef Binko praktischer veranlagt war als Gočár?

Fiřtová: „Ja, auf jeden Fall. Das geht auch aus der Korrespondenz von Marie Gočárová hervor. Sie schreibt ihrem Mann immer wieder, sie sei total pleite und wisse nicht, wie das weiter gehe. Sie hat auch diesen Satz formuliert: ,Wenn es die Binkos nicht gegeben hätte, was würden wir machen.‘ Für die Familien spielte es eine große Rolle, dass sie sich gegenseitig geholfen haben. Meist haben die Binkos Gočárs Familie unterstützt.“

In der Ausstellung werden einige Plastiken von Jan Štursa gezeigt. Stammen sie auch aus den Sammlungen der Familie?

„Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Binko: „Die ausgestellten Plastiken stammen nicht alle direkt aus der Sammlung der Familie. Wir haben sie von der Mährischen Galerie ausgeliehen. Aber ähnliche Stücke aus Gips lassen sich auch in der Familie finden. Jan Štursa war jedoch ebenfalls für die Familie wichtig. Er wurde 1904 beauftragt, ein Grabmal für die Familie Binko zu entwerfen. Genauso wichtig war František Kaván für die Familie – ein Landschaftsmaler, der eine Zeit lang in der Nähe von Krucemburk gelebt hat und mit Josef Binko befreundet war. Sie haben sich oft über Landschaftsdarstellungen der Böhmisch-Mährischen Höhe unterhalten und sich gegenseitig inspiriert. Josef Binko hat František Kaván während des Ersten Weltkriegs finanziell unterstützt, indem er ihm viele Bilder abgekauft hat.“

„Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Fiřtová: „Dieser künstlerische Austausch wird in der Ausstellung in einem Raum dokumentiert, in dem wir uns mit den Fotos von Josef und Dušan Binko beschäftigen. Da gibt es auch Bilder von Kaván und den Malern der sogenannten ,Mařák-Schule‘. Diese zeigen die poetische Landschaft, die die Binkos und Kaván sehr gerne mochten.“

Fotos sind ein wichtiger Bestandteil der Ausstellung. Die Brüder Binko waren hervorragende Fotografen. Was war ihr beliebtestes Thema neben der Landschaft?

„Im tschechischen Raum sind ungefähr fünf Fotografen mit Namen bekannt, die den Ersten Weltkrieg fotografiert haben. Jetzt kommt noch Dušan Binko hinzu.“

Binko: „Josef und Dušan Binko haben beide als Amateure viel fotografiert. Josef Binko gilt heutzutage als einer der führenden Piktorialisten zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine Fotografien befinden sich in den Sammlungen des Prager Nationalmuseums. Dušan Binko war bisher im Familienarchiv versteckt. Diese Ausstellung ist die erste Gelegenheit, um die Fotografien von beiden Brüdern nebeneinander zu zeigen. Ihr Hauptthema war die Landschaft rund um Krucemburk, aber auch die Stadtarchitektur. Sie haben jedoch genauso familiäre Momente festgehalten – Spaziergänge, das Zusammensein der Familien Binko und Gočár. Es sind Aufnahmen, die bis heute niemanden interessiert haben, weil sie eher einen dokumentarischen Charakter haben und teilweise nur auf Negativen im Kunstgewerbemuseum versteckt waren. Wir haben sie herausgeholt und zeigen hier, wie elegant man damals Ausflüge und Spaziergänge unternommen hat. Wir arbeiten auch mit Großformatfotografien im Kontrast zu kleinen Fotos.“

„Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Gezeigt werden zudem Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Wie sind diese entstanden?

Binko: „Der jüngere Bruder von Josef Binko, Dušan Binko, war während des Ersten Weltkriegs an der Front und hatte seine Kamera dabei. Er hat damals ungefähr 300 Bilder gemacht, die aber nicht nur die Schrecken des Kriegs dokumentieren, sondern es sind darunter auch sehr poetische Aufnahmen aus Galizien und aus Italien. Wir zeigen hier eine Auswahl von 25 Bildern. Diese Sammlung von Fotografien ist einzigartig. Im tschechischen Raum sind ungefähr fünf Fotografen mit Namen bekannt, die den Ersten Weltkrieg fotografiert haben. Jetzt kommt noch Dušan Binko hinzu.“

Ausstellung „Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“

Dušan Binko war nicht nur ein einzigartiger Fotograf, sondern auch ein begabter Erfinder, wie es scheint. Wozu diente dieses Gerät, das hier zu sehen ist?

Binko: „Dušan Binko hat sich sehr gut in der Fototechnik ausgekannt. Einige Geräte hat er auch selbst gebaut. Hier ist ein Skioptikon zu sehen. Dies ist die alte Art eines Beamers, mit dem man Glasnegative an die Wand projiziert hat. Das war eine Art der Beschäftigung für die langen Abende in Krucemburk, dass man sich gegenseitig Fotos gezeigt hat. Neben diesem Skioptikon hat Dušan Binko auch ein Vergrößerungsgerät gebaut, das heutzutage im Nationalmuseum für Technik zu sehen ist.“

Im abschließenden Teil der Ausstellung können die Besucher die Arbeit mit Leder ausprobieren. Ist dies eine Gerberei?

Ausstellung „Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Binko: „Zum Glück ist es keine Gerberwerkstatt, dann würde es hier ziemlich stinken. Und man würde Leder erst zum Produkt machen, während hier mit schon fertigem Leder gearbeitet wird. Man kann sich hier hinsetzen, ein Stück Leder in die Hand nehmen und etwas nähen, sticken oder schneidern, sodass man auch eine haptische Erfahrung hat. Wir haben einige Stück gefärbten fertigen Leders, die sich anschauen und auch anfassen lassen. Binko und Gočár haben sich in den 1920er Jahren noch einmal zu einem gemeinsamen Projekt getroffen. Denn Josef Binko war als Unternehmer im Bereich Lederverarbeitung auch an der Entwicklung der Industrie interessiert. Er hat nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik mitdiskutiert über die Ausrichtung der Industrie. Außerdem beteiligte er sich an der Gründung der Gerberschule in Hradec Králové, und vielleicht durch Zufall oder auch nicht entwarf Josef Gočár das Gebäude der Schule.“

Ausstellung „Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Fiřtová: Für Gočár ist das Gebäude von Bedeutung. Dessen Baustil ist für die Purisierung der Architektur und den späteren Funktionalismus wichtig. Die Formen werden einfacher, die Architektur wird klarer. Binko stand hinter ihm und kümmerte sich darum, dass Gočár engagiert wurde.“

Es scheint, dass die Nachkommen von Gočár und Binko auch sehr kunstliebhabend sind und die Kunst eine tragende Rolle für sie spielt…

Binko: „Lustig ist, dass wir beide in Prag im gleichen Jahrgang Kunstgeschichte studiert haben, aber voneinander kaum wussten oder uns nicht darüber bewusst gewesen sind, wie wichtig die Verbindungen zwischen den Familien Binko und Gočár war.“

Ausstellung „Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“ | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Wann haben Sie das dann erfahren?

Fiřtová: „An der Uni hat mir jemand schon zu Anfang gesagt, dass ich mit der Familie Binko verbunden sei. Ich sagte zwar, dass ich das wüsste – dabei haben wir gar nicht geahnt, wie interessant die Verbindung für uns ist. Bei der Arbeit an diesem Projekt sind wir uns näher und näher gekommen. Ich habe gemerkt, dass bestimmte Charakterzüge in der Familie dieselben sind wie vor 100 Jahren. Meine Urgroßmutter war immer sehr ängstlich, sie war immer unsicher, wie alles weiter geht - und das trifft auch auf mich zu. Und Simona ist genauso wie Antonie Binková, die immer gesagt hat, dass alles gut wird. Ich fand das sehr nett, dass solche Sachen in der Familie immer noch erhalten sind.“

Die Ausstellung mit dem Titel „Přivedli svět domů. Binkovi a Josef Gočár“ („Sie brachten die Welt in ihre Heimat. Die Familie Binko und Josef Gočár“) ist noch bis 31. August im Ostböhmischen Museum in Pardubice zu sehen. Die Ausstellung entstand in der Zusammenarbeit mit der Prager Hochschule für Kunstgewerbe im Rahmen des Projektes „Industrie und Kunst: Vergessene Unternehmerpersönlichkeiten als treibende Kraft des wirtschaftlichen Fortschritts“. Im Rahmen des Begleitprogramms werden unter anderem Führungen durch die Ausstellung angeboten sowie durch Pardubice auf Josef Gočárs Spuren.

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