Großer Umbruch im Kino - die ersten Tonfilme in der Tschechoslowakei

Der erste Tonfilm in der Geschichte des Kinos war 1927 der US-amerikanische Streifen „Der Jazzsänger“ (The Jazzsinger). Nur anderthalb Jahre später zog man auch in der Tschechoslowakei nach - allerdings nicht in Prag, sondern im nordböhmischen Ústí nad Labem / Aussig. Die Hauptstadtbewohner mussten noch ein paar Monate länger auf den ersten Tonfilm warten. Beide Ereignisse aber zwangen die Kinos hierzulande, auf die neue Klangtechnik umzurüsten. Das geschah aber nicht so schnell wie anderswo.

Poster zum ersten Tonfilm in der Geschichte The Jazzsinger,  1927  (public domain)
Dass Ústí nad Labem / Aussig zum Schauplatz der allerersten Tonfilmvorführung wurde, war damals nicht überraschend. Denn die Stadt an der Elbe war ein wichtiges Zentrum der tschechoslowakischen Filmindustrie. Schon 1896 war in Aussig die Erfindung der Brüder Lumiere - die bewegten Bilder - im Rahmen einer Europatournee vorgestellt worden.

Am 26. April 1929 wartete eine weitere große Überraschung auf die Cineasten. Geladene Gäste kamen im Kino Alhambra im Aussiger Stadtteil Střekov in den Genuss der ersten gesprochenen Worte auf einer Kinoleinwand in der Tschechoslowakei. Es waren zwei Herren, die in einem Werbestreifen auftraten: Ernst Kobosil, Chef der Filmgesellschaft „Wolframfilm Střekov“, und Heinrich Schicht, Verwalter der Aktiengesellschaft „Georg Schicht“. Die Firma stellte unter anderem die damals wohl bekannte Elida-Seife und das Ceres-Fett her. Vladimír Kaiser ist Stadtarchivar in Ústí nad Labem:

Vladimír Kaiser  (Foto: David Hertl,  Archiv des schechischen Rundfunks)
„Heinrich Schicht erkannte die Bedeutung des Tonfilms für die Reklame. Höchstwahrscheinlich mit seiner finanziellen Unterstützung kaufte Ernst Kobosil eine superteure Klangapparatur von der AEG Tobis Klangfilm Berlin. Diese war so groß, dass man sie in einem speziellen Raum unterbringen musste. Am 27. April 1929 veranstalteten die beiden Herren die tschechoslowakische Erstaufführung eines Tonfilms. Nach Schichts und Kobosils Ansprachen waren auf der Leinwand einige kürzere US-amerikanische Tonfilme zu sehen. Darunter eine Groteske, eine Jazzrevue und eine Filmoperette, die damals ein brandneues Genre war. Zur Filmpräsentation geladen waren Kinoinhaber und Filmproduzenten aus verschiedenen Regionen der Tschechoslowakei, ihnen wollte man die Möglichkeiten des Tonfilms demonstrieren.“

Um Filmkunst handelte es sich nach allgemeiner Interpretation aber noch nicht. In jedem Fall fand die Vorführung der neuen technischen Errungenschaft auch politische Resonanz. Kommunisten äußerten ihr Missbehagen über den Tonfilm.

Lucerna-Kino | Foto: Ian Willoughby,  Radio Prague International
„Ihre Tageszeitung ´Die Internationale´, die in Aussig in deutscher Sprache herausgegeben wurde, veröffentlichte einen Artikel mit der Überschrift: ‚Soll sich der Kommunist einen Tonfilm anschauen?‘ Aber selbstverständlich, lautete die Antwort. Die Kommunisten seien nicht - so der Artikel - gegen Neuigkeiten und gegen die Avantgarde. Allerdings müsse man sich dessen bewusst werden, dass der Tonfilm lediglich als Werbeinstrument für die Seifen des Aussiger Kapitalisten diene. Der Tonfilm könne nie zu einem Kunstwerk werden, so wie es Genosse Sergei Eisenstein mit seinem Film ´Panzerkreuzer Potemkin´ geschafft habe. Außerdem sei der Tonfilm sozial gesehen äußerst unfair, weil viele Musiker ihre Arbeit verlieren würden“, so Vladimír Kaiser.

Nach der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 war die Zahl der Kinosäle im Land schnell angestiegen. Gegenüber 300 am Anfang waren es fünf Jahre später schon 796 Kinos. Die dynamische Erweiterung des Kinonetzes hing auch mit der beschleunigten Produktion von abendfüllenden Spielfilmen zusammen. Es waren zunächst aber Stummfilme, die in der Regel von Live-Musik begleitet wurden. Als dann der Tonfilm erfunden war, wurde er jedoch schnell konkurrenzlos. Infolgedessen verloren hierzulande tatsächlich rund 1800 Musiker ihr regelmäßiges Einkommen.

Lucerna-Kinosal   (Foto: Kino Lucerna)
In den 1920er Jahren wurde vor allem in größeren Städten des Landes begonnen, Kinosäle mit hoher Sitzplatzkapazität zu errichten. Und das oft als Teil prunkvoller Mehrzweckhäuser. Im Prager Stadtzentrum war dies zum Beispiel der „Lucerna-Palast“ mit dem gleichnamigen Kinosaal. Dort fand am 13. August 1929 die zweite Tonfilmpremiere in der ČSR statt. Diesmal mit dem US-amerikanischen Filmmusical „Show Boat“.

Die Prager Tonfilmpremiere hatte ein Vorspiel gehabt. Der Leiter des heutigen Kinos Lucerna, Bedřich Němec, blickt zurück:

Miloš Havel  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Nachdem 1927 der erste Tonfilm in den USA gezeigt wurde, entbrannte in der Tschechoslowakei, die damals ebenso wie Deutschland oder Frankreich für die technischen Neuigkeiten der Filmbranche offen war, ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen zwei Filmunternehmern: Miloš Havel und Osvald Kosek. Es ging darum, wer von ihnen als erster das Geld für die modernste und sehr teure Filmtechnik anschaffen würde. Der Gewinner war Miloš Havel. Für das Lucerna-Kino bedeutete diese Errungenschaft sehr viel.“

Miloš Havel war der Onkel des späteren tschechoslowakischen und tschechischen Präsidenten Václav Havel. Er gründete schon 1912 die Filmproduktionsgesellschaft Lucernafilm, die nach 1918 fast eine Monopolstellung auf dem tschechoslowakischen Filmmarkt hatte.

Lucerna-Palast  (Foto: Kristýna Maková,  Archiv Radio Prag)
Nach den ersten Vorführungen in Aussig und Prag drang der Tonfilm auch in die Regionen vor. Doch erst 1938 verfügten alle Kinos hierzulande über eine Klangapparatur. Von einem schlagartigen Umbruch in der tschechoslowakischen Filmbranche lässt sich daher nicht sprechen. Ivan Klimeš ist Chef des Instituts für Filmstudien an der Karlsuniversität in Prag:

„Das ist eben das Interessante, dass bei uns ganz am Anfang kaum jemand mit einem Boom des Tonfilms rechnete, durch den die beliebten und in hoher Zahl produzierten Stummfilme aus den Kinos verdrängt würden. Man ging davon aus, dass sich Kinohäuser mit weniger als 200 Sitzplätzen das kostspielige Umrüsten nicht leisten könnten. Noch 1929 dachten sogar auch bekannte und erfahrene Hollywood-Produzenten, dass außer den Tonfilmen weiterhin auch Stummfilme gedreht werden sollten. Doch schon ein Jahr später wurde die künftige Entwicklung ganz anders gesehen.“

Damals gab es auch ein dramatisches Ereignis in Prag, das sich kurioserweise direkt auf den Start des Tonfilms bezog.

Ivan Klimeš  (Foto: David Hertl,  Archiv des schechischen Rundfunks)
„Im September 1930 fanden mehrere große Demonstrationen in Prag statt. Eigentlich war es eine politisch motivierte Provokation von Extremisten. Der Wenzelsplatz war voller Demonstranten. Bei Zwischenfällen mit der Polizei gab es auch Verletzte auf beiden Seiten. Um eine starke nationalistische Welle zu schüren, nahmen die Demonstranten deutschsprachige Spielfilme zum Vorwand. Man wolle keine deutschen Filme im slawischen Prag, hieß es. Die Lage beruhigte sich dann aber schnell wieder. Allerdings bemühte sich der damalige Prager Oberbürgermeister Karel Baxa, Fremdsprachen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Ihm gelang es dann sogar, beim Innenministerium ein Verbot deutscher Filme in Prag durchzusetzen. Dieses Verbot blieb aber nur zwei Monate in Kraft. Die Folge war letztlich nur die Vertagung der geplanten Prager Premiere vom ‚Blauen Engel‘ mit Marlene Dietrich“, sagt Ivan Klimeš.

Schon um das Jahr 1930 feierten auch die ersten drei vertonten tschechischen Spielfilme großen Erfolg, denen bald weitere folgten. In vielen spielte die Filmmusik eine besondere Rolle. Der Medienwissenschaftler Petr Szepanik von der Masaryk-Universität in Brno/Brünn schreibt in einem Buch über die tschechische Medienkultur der 1930er Jahre („Konzervy se slovy. Počátky zvukového filmu a česká mediální kultura 30. let“, 2008) dazu, Zitat:

Petr Szczepanik  (Foto: Masaryk-Universität in Brno)
„Das Hauptziel der Filmmusik war nicht, die Handlung emotional zu unterstreichen oder das dramatische Potential einer Szene beziehungsweise die Charakteristik der Protagonisten hervorzuheben. Vielmehr ging es den Produzenten um eine passende Darbietung der Schlager, damit diese den Zuschauern im Gedächtnis haften blieben. Womöglich pfiffen die Zuschauer gleich nach der Kinovorstellung den einen oder anderen Song vor sich her oder sangen womöglich. Auf diese Weise sollte sich die Nachricht über den jeweiligen Streifen unter den potentiellen Konsumenten verbreiten. Daher findet man in den tschechischen Filmen der 30er Jahre unzählige Szenen in Weinstuben, Bars, Operettentheatern oder Tanzlokalen. Während die Sänger und Orchester sich selbst im Film spielten, standen die Helden der Handlung häufig herum, lauschten der Musik oder tanzten.“

Anders gesagt: Die Handlung des Films drehte sich im gewissen Sinn um das Titellied des Films. Szepanik zufolge nutzten Filmproduzenten diese Strategie in den Jahren zwischen 1930 und 1945 für insgesamt 30 Spielfilme. Viele davon gehörten zu den Kassenschlagern der Kinos. An der Spitze der Beliebtheit stand das Orchester R.A. Dvorský. Der Kapellmeister trat in rund 20 Spielfilmen in der Rolle des Dirigenten und Sängers auf.

In Ústí nad Labem fand im Dezember 2006 im dortigen Kino Alhambra eine internationale Konferenz statt, bei der es um die Geschichte des tschechischen Films ging. Bei dieser Gelegenheit wurde dem Kino und der Stadt nach über 76 Jahren von Filmhistorikern offiziell die Ehre zuerkannt, den ersten Tonfilm hierzulande vorgestellt zu haben. An das Ereignis erinnert dort seitdem eine Gedenktafel.