Guter Wille, schlechte Umsetzung: Tschechien zahlt Entschädigung für unfreiwillige Sterilisationen
Zwangssterilisationen waren gängige Praxis in der Tschechoslowakei. Aber auch nach der Wende von 1989 wurden Frauen in Tschechien noch unfreiwillig ihrer Fruchtbarkeit beraubt. Betroffen waren zumeist Romnja, und Opferverbände haben viele Jahre für ein Entschädigungsgesetz gekämpft. Seit Anfang dieses Jahres kann nun ein Schadensersetz von einmalig 300.000 Kronen pro Person beantragt werden. Aber lange nicht allen Opfern wird das Geld auch bewilligt.
Die Kriterien für den Antrag auf einen Schadensersatz von 300.000 Kronen (12.235 Euro) scheinen einfach zu sein: Anspruch haben alle Frauen, die in der Zeit zwischen 1. Juli 1966 und 31. März 2012 Opfer einer ungewollten Sterilisation geworden sind. Als Beleg fordert das tschechische Gesundheitsministerium die Patientenakte oder andere Dokumente ein. Doch hier liegt die Krux bei der Bewilligungspraxis, durch die nach Ansicht von Opferverbänden bisher zu wenige Frauen das Geld tatsächlich bekommen haben.
Laut einem offenen Brief, den Roma- und Menschenrechtsverbände Mitte August an die Regierung geschickt haben, wird den Antragstellerinnen die Abfindung auch in dem Fall verweigert, wenn ihre Patientenakte gesetzeswidrig geschreddert wurde. Anna Košlerová, Reporterin beim Nachrichtenportal iRozhlas.cz, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Thema und begleitet betroffene Frauen bei ihren Bemühungen um Entschädigung. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erläuterte sie, dass bisher nur Personen mit einer Patientenakte die Gelder bewilligt worden seien:
„Das Gesundheitsministerium stellt diese Bedingung nicht offiziell. Nach Auskunft von Opfern und NGOs wird dies in der Praxis aber so gehandhabt. Das Entschädigungsgesetz ist sehr vage formuliert, laut dem zugehörigen Begleitblatt sollte auch eine beglaubigte Zeugenaussage ausreichen. In der Realität akzeptiert das Ministerium aber nur die ursprüngliche ärztliche Dokumentation. Dies stellt ein Problem dar, obwohl die Krankenhäuser verpflichtet sind, solche Patientenakten 40 Jahre lang aufzubewahren. Denn diese Sterilisationen erfolgten oft im Zuge einer Geburt, und solche Akten wiederum müssen nur zehn Jahre lang aufgehoben werden. Dann werden sie geschreddert.“
Die schlechte Aktenlage erschwert den betroffenen Frauen den Zugang zu der sowieso schon späten und eingeschränkten Wiedergutmachung. Viele Fälle von unfreiwilliger Sterilisation sind heute kaum noch zu belegen. Dem Entschädigungsgesetz vom vergangenen Jahr zufolge fanden diese Eingriffe in der Tschechoslowakei seit 1966 statt. Ein Bericht des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma (ERRC) von 2016 beschreibt, dass die Zwangssterilisationen gezielt bei Romnja sowie bei Frauen mit gesundheitlichen Beschwerden durchgeführt wurden. Gesetzlich verankert wurden diese „Geburtenkontrolle“ 1971. Diese Verordnung wurde in Tschechien zwar 1993 aufgehoben. Der letzte bekannte Fall stamme aber von 2010, so Anna Košlerová…
„Nach Schätzungen des ersten Ombudsmannes Otakar Motejl waren insgesamt etwa 8000 Frauen betroffen. Wie viele es wirklich waren, weiß man aber bis heute nicht, denn der Staat hat dazu nie offizielle Nachforschungen angestellt. Darum gibt es keine amtlichen Zahlen.“
Patientenakten wurden geschreddert
Eine Schwierigkeit bei den Entschädigungsanträgen ist deshalb der Beweis, dass der Eingriff ohne das Wissen und die Zustimmung der jeweiligen Frau vorgenommen wurde. Laut Košlerovás Recherchen belegen noch vorhandene Akten, dass die Einverständniserklärung oft direkt während einer Geburt unterschrieben werden musste. Eine Frau berichtet, dass sie erst Jahre später von ihrem Gynäkologen erfahren habe, dass sie nicht mehr fruchtbar sei. An die vorherige Geburt ihres Kindes erinnert sie sich so:
„Ich habe überhaupt nicht gewusst, was ich da gerade unterschreibe. In diesem Moment hätte ich auch für meinen eigenen Tod unterschrieben, weil ich so starke Schmerzen hatte. Dann wurde ich in den OP-Saal gefahren, wo der zweite Kaiserschnitt durchgeführt wurde und gleichzeitig auch die Sterilisation.“
Ein weiteres Opfer beschreibt eine ähnliche Situation:
„In dem Moment hatte ich starke Schmerzen und wusste überhaupt nicht, was dort geschrieben stand. Von einer Sterilisation habe ich nichts gehört oder gelesen. Ich habe unterschrieben, und das war alles.“
Den Verdacht, dass es in der Tschechoslowakei und auch in Tschechien zu ungewollten Sterilisationen gekommen war, äußerte das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma bereits 2001. Auf Initiative des Menschenrechtsaktivisten Kumar Vishwanathan begannen betroffene Frauen, nicht nur über ihre Erfahrungen öffentlich zu sprechen, sondern zudem vom Staat eine Entschädigung zu fordern. 2009 gab es eine offizielle Entschuldigung von der damaligen Regierung, und im August 2021 unterschrieb Präsident Miloš Zeman das Gesetz Nummer 297/2021.
Das Gesundheitsministerium stellte dafür insgesamt 120 Millionen Kronen (4,9 Millionen Euro) bereit. Die Regierung rechnet also mit nur etwa 400 Frauen, die Anspruch auf die Abfindung hätten. Sofern deren Patientenakten aber geschreddert worden, kämen auch sie nicht zum Zuge, informiert Reporterin Košlerová:
„Die Frauen, die vor 1992 sterilisiert wurden, haben im Prinzip keine Aussicht auf die Entschädigung. In einem Fall, bei dem der Eingriff zum Beispiel 1979 stattfand, es sogar mehrere Zeugen aus den Reihen der Familie und belegbare gesundheitliche Probleme gibt sowie eine Bestätigung der Klinik über die erfolgte Sterilisierung, wird die Entschädigung sehr wahrscheinlich nicht bewilligt, wenn nicht die ursprüngliche Akte vorhanden ist.“
Im Gesetz sei ausdrücklich auch die Rede von anderen Beweisdokumenten, die anstelle der Patientenakte vorgelegt werden könnten, betont Košlerová. Allerdings seien ihr keine Fälle bekannt, in denen diese auch anerkannt wurden. Das Gesundheitsministerium verteidigt seine strenge Prüfung mit dem Hinweis, dass es nicht nachvollziehen könne, ob die Akten in den Krankenhäusern im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen vernichtet worden seien. Für sie stelle das Gesetz klare Anforderungen, sagt Eliška Machová von der Presseabteilung des Gesundheitsressorts:
„Es ist die Pflicht der Antragstellerinnen, durch die entsprechende Kennzeichnung der Dokumente sowie der Beweise zu belegen, dass ihr Anspruch berechtigt ist. Im Falle der Anerkennung zahlt das Ministerium öffentliche Gelder aus, und deswegen muss im Verfahren nachgewiesen werden, dass es sich um einen berechtigten Anspruch handelt. Das Gesetz ermöglicht es nicht, dazu eine eidesstattliche Erklärung zu nutzen.“
Späte Entschädigung
Da allein der bürokratische Vorgang der Antragstellung für viele betroffene Frauen eine Herausforderung darstellt, hat die tschechische Liga der Menschenrechte schon im Januar etwa in Ostrava / Ostrau ein Gemeindezentrum eröffnet, das den Frauen dabei hilft. Die Leitung hat Elena Gorolová inne, die selbst Opfer einer unfreiwilligen Sterilisation ist. Sie sei dankbar, dass eine Entschädigung nun möglich ist, sagte Gorolová bei der Eröffnung. Sie fügte aber an, dass dies lange gedauert habe und einige der Opfer dies schon nicht mehr miterleben könnten.
Nach einem dreiviertel Jahr Praxis mussten die Unterstützergruppen nun aber konstatieren, dass die Umsetzung des Gesetzes mehr als stockend läuft. Anna Košlerová sieht dies in ihren Recherchen bestätigt:
„Ich habe mich mit mehreren Opfern unterhalten, und alle beschweren sich, dass der Prozess intransparent und sehr verwirrend sei. Die meisten der Roma-Frauen sind sowieso schon eine paternalistische und erniedrigende Behandlung auf Ämtern gewohnt, und dies ist nun noch ein weiteres Beispiel dafür. Oft sind die Frauen nicht darin geübt, mit Behörden zu verhandeln. Das Gesundheitsministerium ist für sie ein riesiges Monstrum. Wenn sie dort anrufen, kommen sie nicht bis an die richtigen Stellen durch oder verstehen den formalen Umgang nicht.“
Laut Gesetz hat das Gesundheitsministerium zur Bearbeitung eines Antrags 60 Tage Zeit, und im Falle der Anerkennung muss innerhalb von weiteren 30 Tagen das Geld überwiesen werden. Bei einer Ablehnung kann die Antragstellerin innerhalb von 15 Tagen Einspruch einlegen. Von den 40 Berufungsfällen, die seit Jahresanfang bis Ende August eingereicht wurden, sei allerdings kein einziger erfolgreich gewesen, informiert die tschechische Menschenrechtsliga. Nach deren weiteren Angaben habe etwa die Hälfte der Frauen, die mit Hilfe dieser Organisation den Antrag auf Entschädigung stellt, keine Patientenakte mehr und damit auch keine Aussicht auf Erfolg. Zudem gilt das Gesetz nur für chirurgische Eingriffe auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens und nicht in der Slowakei.
Angesichts dieser Hürden fordert die Menschenrechtsliga gemeinsam mit anderen Opferverbänden in dem offenen Brief eine Anpassung des Gesetzes. Die Verfasser argumentieren, dass das Vertrauen der Opfer in die guten Absichten des Staates beschädigt sei. Es bräuchte nun eine eindeutige Methodik, die den Fall einer unfreiwilligen Sterilisation klar definiere, heißt es weiter.
Bisher habe das Ministerium nicht auf diese Kritik reagiert, teilt Košlerová mit. Von den 330 Anträgen, die im Ressort von Januar bis Ende Juni eingegangen waren, seien mit Stichtag 10. August insgesamt 82 genehmigt worden. Es gebe aber auch Beschwerden, dass selbst dann die Auszahlung länger dauere als die vorgesehene Monatsfrist, fügt die Reporterin an – und stellt die Frage, ob das Entschädigungsgesetz seinen Zweck erfülle, wenn die zuständige Behörde einen derart formellen Umgang mit den Opfern pflegt. Nach Ansicht Košlerovás wäre es angebracht, mehr Sachbearbeiter mit der Antragsprüfung zu beauftragen und diese für einen humaneren Umgang mit den Frauen zu schulen.
Die versöhnende Wirkung des Entschädigungsgesetzes, das nun mittlerweile schon mehr als ein Jahr gültig ist, würde aber immer noch anhalten, urteilt die Journalistin:
„Die Frauen selbst verstehen es als ein Symbol des Entgegenkommens. Der Staat reicht ihnen quasi die Hand und erkennt an, dass eine eugenetisch motivierte Politik grundlegend in die Integrität der Menschen eingreift und nicht mehr zum Selbstverständnis der heutigen Gesellschaft gehört.“
Ein weiterer Effekt sei auch, dass in der Öffentlichkeit ein Nachdenken stattfinde, ergänzt Anna Košlerová. Ob die Summe der festgelegten Abfindung ausreiche, werde sich auch daran zeigen, wie sich der weitere Entschädigungsprozess gestalte und inwiefern die tschechische Gesellschaft unfreiwillige Sterilisationen als grausames Vorgehen anerkenne.