Havel kritisierte das kommunistische Denken
Präsident Vaclav Havel hat am Sonntagabend seinen Aufenthalt im Krankenhaus unterbrochen, um auf der Burg eine Rede zum tschechischen Staatsfeiertag zu halten. Darin kritisierte er das überdauernde kommunistische Denken in der Gesellschaft. Die Art des Denkens, die sich das Monopol auf die Deutung der Welt macht, hat nach Meinung des Präsidenten zwar einen kapitalistischen Anhauch bekommen, sonst habe sie sich kaum geändert. Die Hauptgedanken fasst Martina Schneibergova zusammen:
Vaclav Havel stellte einleitend fest, wenn die Vergangenheitsbewältigung bis heute eine Frage darstellt, sei es - so der Präsident nicht gut. Es sei bestimmt jedoch gut, dass wir über die Existenz dieser Frage überhaupt wissen und darin eine bedeutende Schuld uns gegenüber fühlen. Er erinnerte zuerst an das - wie er betonte - Erfreulichere: Es seien zahlreiche Bücher herausgegeben worden, die anhand aller neu erreichbarer historischer Quellen unsere jüngste Geschichte zu erforschen und alle vorher tabuisierten Themen auszuschließen versuchen. Er nannte in diesem Zusammenhang beispielsweise die Tapferkeit, aber gleichzeitig Einsamkeit des tschechischen Widerstandskampfes, die Racheakte an Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch das eigene schlechte Gewissen hervorgerufen wurden sowie die gegenüber dem kommunistischen Gangstertum eingegangenen Zugeständnisse. Im Bereich der Kenntnisse über die Vergangenheit sind wir sehr gut daran, meinte der Präsident, der jedoch zugleich bemerkte, etwas schlechter ist es mit der Hochachtung und Respekt, die diejenigen verdienen würden, die imstande waren, zuerst gegen den Nationalsozialismus und danach gegen den Kommunismus zu kämpfen.
Noch schlimmer stehe es - so Präsident Havel - um die Strafverfolgung derjenigen, die ihr Land verrieten oder ihre Mitbürger folterten:
"Deren Fälle, falls sie überhaupt untersucht werden, ziehen sich aus rätselhaften Gründen, Jahre lang hin. Bei deren Erörterung tauchen immer wieder irgendwelche wirkliche oder vermutete Mängel auf, immer tauchen dann irgendwelche Hindernisse auf, wegen denen keine Urteile gefällt werden. Diese Tatsache stellt sämtliche Erklärungen über den verbrecherischen Charakter des ehemaligen Regimes in Frage, sowie den Willen der Gesellschaft und deren politischen Eliten, Konsequenzen aus der Vergangenheit zu ziehen."
Den Hauptgrund des mangelnden Bedarfs, alles Verurteilenswerte zu verurteilen, sieht Vaclav Havel darin, dass die Mehrheit der Bürger - auch wenn unter einem groben und raffinierten Druck - sowieso mit dem Regime zusammengearbeitet oder es wenigstens geduldet hat.
Den schwachen Willen, die Verantwortlichen des vergangenen Regimes zu bestrafen, hält Präsident Havel aber nicht für das schlimmste Beispiel der mangelnden Fähigkeit, die Vergangenheit zu bewältigen. Als das Gefährlichste und Ernsthafteste bezeichnete er die geerbte Denkweise, Haltung zur Welt und Wertskalen, die heute - so Havel - zwar einen vereinfacht gesagt kapitalistischen Anhauch haben, sich aber im Grunde genommen von den Manieren kaum unterschieden, die der Kommunismus Jahre lang gepflegt habe. Er verwies darauf, dass wieder alle beschimpft worden seien, die sich erlauben, selbständig, unabhängig und kritisch zu denken.
Danach nannte der Präsident noch einen anderen Aspekt: Die Grundlage habe nach der marxistischen Lehre das ökonomische Dasein dargestellt. Übernehmen wir auch heute nicht dieselbe verkehrte und höchst gefährliche Weltauffassung? Vaclav Havel fragte weiter: werden nicht auch heute die Rechtsordnung, die ethische Ordnung, die in der Ewigkeit verankerte Verantwortung eher für eine witzige Zierde gehalten, mit denen sich vor allem Abtrünnige - die sogenannten Intellektuellen - befassen? Dies sei eine technokratische Beziehung, betonte der Präsident.
Abschließend erinnerte er an den in der Gesellschaft erneut aufgetauchten Widerstand gegen den Rest der Welt, der mit einer nationalistischen Selbstverherrlichung verbunden ist. Er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, man möge von den tragischen Ereignissen der letzten Zeit die Lehre ziehen, dass heute alle Menschenschicksale in ein einziges Schicksal miteinander verbunden seien, von dem es keine Flucht gebe und das man akzeptieren müsse. Als Geschenk, Frage sowie eine Aufgabe, unterstrich Vaclav Havel.