Im Labyrinth – Franz Kafkas Kindheit in Prag
Für die gemeinnützige Organisation „Die Erzählerei“ berichtet Przemek Schreck regelmäßig live Geschichten aus dem Leben des Schriftstellers Franz Kafka. Am vergangenen Donnerstag wurde dafür ein ganz besonderer Ort ausgewählt: Das Haus zur Minute am Altstädter Ring.
Das Gebäude trägt noch immer die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts in sich. 1883 wurde hier der später weltbekannte Schriftsteller Franz Kafka geboren. Przemek Schreck erzählt im ehemaligen Wohnzimmer der Kafkas einen Abend lang Geschichten aus der Jugend des Schriftstellers: von seinen Erlebnissen in der Familie, den vielen Umzügen in der Prager Altstadt und Kafkas Zeit in Schule und Universität. Die Anekdoten sind hauptsächlich in Tagebucheinträgen und Briefen überliefert, wie Przemek Schreck erklärt…
„Er hat von etwa 1910 bis 1923 Tagebuch geschrieben. Zunächst relativ regelmäßig – später dann ein bisschen weniger. Aber er hat auch weit über 1000 Briefe verfasst. 500 davon gingen an Felice Bauer. Auf diesen Seiten hat er sehr viel über sein Leben berichtet“
Auch die Tagebücher waren es, die in Schreck die Begeisterung für den Autor Kafka entfacht haben:
„Ich habe erstmal sein Werk zur Seite gelegt und mir seine Tagebücher gekauft. Die habe ich gelesen und bin dann dem Menschen Franz Kafka begegnet. Er war so außergewöhnlich, so vielfältig und auch so verrückt. Das hat mich so fasziniert und vereinnahmt, dass ich die Tagebücher zu Ende gelesen habe. Sie sind mittlerweile meine absoluten Lieblingsbücher der Weltliteratur.“
Ständige Veränderungen und eine einprägsame Vaterfigur
In den Einträgen berichtet Kafka viel von seinem deutsch-jüdischen Elternhaus. Besonders der Vater Hermann spielt in den Aufzeichnungen eine große Rolle. Er betreibt ein Galanteriewarengeschäft und widmet sich zusammen mit der Mutter vollends seinem Beruf. Franz Kafka bleibt daher oft unbeachtet, während der Vater an seinem sozialen Aufstieg arbeitet, berichtet Przemek Schreck…
„Er ist aus einem kleinen Dorf und einer Fleischerfamilie nach Prag gekommen und wollte es hier zu etwas bringen. Das hat er auch geschafft: Er landete mit seinem Galanteriewarengeschäft in der Ehrenloge, dem Altstädter Ring. Dabei war er tüchtig, sparsam, entschlossen, ausdauernd und stimmgewaltig – also ein richtiger Herrscher. Und eben diese Verpflichtung, die das Geschäft darstellte, war für Kafka schwierig, weil er seine beiden Eltern sehr selten gesehen hat. Das Geschäft hat eben die volle Aufmerksamkeit der Eltern in Anspruch genommen.“
Zum Ausgleich engagiert die Familie Personal, das die Betreuung des kleinen Franz übernehmen soll. Doch auch das lässt sich mit den Interessen des Vaters kaum in Einklang bringen…
„Das tschechische Personal war völlig schutzlos den Launen des Hausherren ausgeliefert. Wenn sie nicht gehorchten oder wenn der Fleiß nachließ wurden sie ohne Bedenken auf die Straße gesetzt und es wurde neues Personal eingestellt. Das ist für einen Heranwachsenden natürlich mit vielen traumatischen Erinnerungen verbunden. Ein Kleinkind braucht Kontinuität, es braucht ein gewohntes Gesicht und eine gewohnte Stimme. Es ist Franz Kafka leider nicht wirklich gelungen, mit irgendeiner Person eine tiefere Beziehung einzugehen.“
Verstärkt wird das durch die etlichen Umzüge innerhalb der Stadt, zu denen Franz durch die Entscheidungen seiner Familie gezwungen ist. Der junge Kafka leidet außerdem unter dem Druck in der Knabenschule. Stets begleitet ihn das Gefühl, den Anforderungen nicht gerecht zu werden, obwohl er nach außen als Vorzeigeschüler in Erscheinung tritt.
„Sie haben ab der ersten Klasse des Gymnasiums schon acht Stunden Latein gehabt. Dann ab der dritten Klasse sogar sechs Stunden Latein und fünf Stunden Griechisch. Die Schüler waren im unentwegten Modus des Paukens. Es wurde ständig abgefragt und benotet. Kafka hatte zu seiner Schulzeit eine ständige Angst des Nicht-Genügens. Er hatte gute Noten auf der Knabenschule und auf dem Gymnasium. Aber diese Angst, dass er plötzlich nicht mehr bestehen könnte, ist immer geblieben.“
Nach der Erzählstunde im Wohnzimmer der Kafkas führt Przemek Schreck die Gruppe durch die Prager Altstadt und zeigt weitere Gebäude, in denen der junge Schriftsteller seine Zeit verbracht hat.
Zwar verbringt Kafka noch viele Jahre in der Stadt, doch hat er aufgrund seiner Erfahrungen ein eher negatives Verhältnis zu ihr. Er möchte Prag zeitlebens verlassen. Auch aus beruflichen Gründen, erklärt Schreck:
„Er hat davon geträumt, in Berlin zu leben. Vor allem nachdem er Felice Bauer kennengelernt hatte. Er hätte gerne von seinem Schreiben gelebt: Das war in Berlin möglich und vielleicht auch noch in München. Er hat auch Anläufe genommen und war einmal kurz davor zu entfliehen. Er wollte weg, hat das aber bis fast zum Schluss nicht geschafft. Kafka erinnert sich dann auch in einem Brief an einen seiner Freunde, dass das Mütterchen Prag Krallen habe – es ließe einen nicht los. Man müsse es eigentlich von beiden Seiten anzünden. Am Vyšehrad und am Hradschin. Erst dann könne man fortkommen und sonst nicht.“
Motive aus der Jugendzeit finden sich in den Geschichten wieder
Es ist schwer zu sagen, wie Kafkas Kindheit sein Werk beeinflusst hat. Die typische „kafkaeske“ Stimmung wird oft als Ausdruck seiner kindlichen Orientierungslosigkeit gesehen. Laut Przemek Schreck sind das aber nur Spekulationen. Dennoch erkennt er einige Motive aus Kafkas Kindheit in seinen Werken wieder. So zum Beispiel die Vaterfigur.
„Vor allem im ‚Urteil‘ – der Geschichte, die ihm am wichtigsten war und die er im Jahr 1912 geschrieben hat – wird ein Kampf beschrieben, ein Miteinander zwischen Vater und Sohn. Der Vater verurteilt dann am Schluss der Geschichte den Sohn zu einem Selbstmord. Er stürzt sich dann von der Brücke Čechův most. Kafka wohnte zu der Zeit im Haus zum Schiff an der Moldau. Die Einflüsse des Vaters sind im Werk also stark zu sehen.“
Auch die Wahrnehmung des elterlichen Geschäfts sieht Schreck in Kafkas Romanen.
„Auch seine Figuren, die sich immer wieder in labyrinthartigen Gängen verlieren… Das sehen wir ganz deutlich im ‚Prozess‘, wo Josef K. plötzlich schwindelig wird und er keine Luft bekommt. Obwohl er erst ein paar Schritte gemacht hat, weiß er nicht mehr wo er ist und wo sich der Ausgang befindet. Er ist auf Hilfe angewiesen. Dieses Labyrinthartige ist es, was die Geschäfte des Vaters verdeutlicht, weil sie für Franz eben auch so unergründlich waren.“
Dennoch weist Schreck auch immer wieder darauf hin, dass man Kafka am besten unvoreingenommen liest – ohne Vorurteile und Vorstellungen eines depressiven jungen Mannes hinter dem Werk. Es sei auch viel Humor in den Büchern, sagt er. Man solle den Menschen als Ganzes betrachten – auch wenn das Kind Franz Kafka teils sicherlich noch immer aus seinen Geschichten hervortritt.