Im Netz der Geschichte: Sibylle Plogstedt und ihr Prager Frühling

Sibylle Plogstedt (Foto: Martina Gollhardt, www.sibylle-plogstedt.de)

Als vor 40 Jahren die Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten und den Prager Frühling niederwalzten, da bedeutete das für viele Tschechinnen und Tschechen das Ende ihres großen Traums von Freiheit. Aber auch im Ausland hatten viele an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz geglaubt und die Reformer in Prag unterstützt. Zum Beispiel die damals 23-jährige westdeutsche Studentin Sibylle Plogstedt, die sich nach der Invasion einer Untergrundbewegung anschloss und dafür sogar in einem Prager Gefängnis landete. Heute lebt Plogstedt als Journalistin, Buchautorin und Filmemacherin in Bonn. Über ihre Erinnerungen an 1968 und die Zeit danach hat Gerald Schubert mit ihr gesprochen.

Frau Plogstedt, Sie sind jetzt gerade in Prag, weil Sie eine besondere Beziehung zum Prager Frühling haben. Wie kam denn das?

„Ich war im August 1968 durch Zufall in Prag. Im Juli bin ich gekommen, weil ich als Studentin eine Arbeit über den Prager Frühling und die Wirtschaftsreformen schreiben wollte. Während der Zeit, in der ich hier war, wurde ich von dem Einmarsch wie alle im Land hier überrascht. Seither hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen.“

Ihr Fall ist aber anders als die Fälle vieler deutscher Touristen, die zur Zeit des Einmarsches gerade in Prag waren und irgendwie schnell nach Hause kommen wollten. Im Gegenteil: Sie sind geblieben und später sogar wieder zurückgekommen. Wie hat sich das entwickelt?

„Während des Einmarsches bin ich erst mal zur Studentenvertretung gegangen und habe angeboten, zu helfen. Ich hatte ein Auto, was damals noch rar war, und habe durch die russischen Kontrollen auf der Moldaubrücke Flugblätter transportiert. Einmal sogar einen Rundfunksender. Das wusste ich aber zum Glück gar nicht. Man hatte mir da statt Papier diesen Rundfunksender ins Auto geladen. Ich habe also erst mal versucht, mich nützlich zu machen. Später bin ich dann wieder zurückgekommen. Ich gehöre ja in Deutschland zu den 68ern, also zu den linken Reformbewegungen, und habe mir hier eine Gruppe von Menschen gesucht, die ähnlich dachten. Da traf ich auf Petr Uhl, mit dem ich auch bis heute noch gut befreundet bin. Zusammen haben wir die Bewegung der revolutionären Jugend gegründet, das ist die so genannte První skupina Petra Uhla, also die Erste Gruppe um Petr Uhl. Ende 1969 wurden wir dann alle zu Haftstrafen zwischen einem und vier Jahren verurteilt. Ich zu zweieinhalb Jahren, Petr Uhl zu vier Jahren. Nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft wurde ich dann ausgewiesen.“

Wie muss man sich das vorstellen? Sind Sie beim Schmuggeln irgendwelcher Materialien auf frischer Tat ertappt worden, oder wurde die ganze Gruppe auf einmal festgenommen?

Gefängnis Prag-Ruzyně 1968  (Foto: ČTK)
„Man hat uns einen Agenten in die Gruppe geschleust. Da wir Linke waren, wollten wir natürlich auch einen Arbeiter haben, und der war am Ende der Agent. Die ganze Gruppe ist dann auf einmal festgenommen worden, mit einer Ausnahme: Ich war, weil es kurz vor Weihnachten war, auf dem Weg nach Deutschland, um meine Mutter zu besuchen, und bin einige Tage vorher festgenommen worden. Das hatte den Vorteil, dass die Gruppe wenigstens schon wusste, dass sie wahrscheinlich auch verhaftet werden würde. Die tschechischen Behörden hätten ja auch sagen können, dass das Banalitäten waren, aber diesen Weg haben sie nicht gewählt. Als wir merkten, dass wir diesen Agenten haben, und nicht wussten, wie wir damit umgehen sollen, lösten wir die Gruppe auf, und wir hofften, dass wir damit davonkommen. Das ist aber nicht der Fall gewesen. Die tschechischen Behörden haben dann immer versucht, mir nachzuweisen, dass ich auch eine Agentin sein muss, wenn ich mich hier politisch engagiere. Das ist natürlich absoluter Quatsch. Man kann sich auch aus Menschlichkeit engagieren.“

Wie erinnern Sie sich heute an die anderthalb Jahre Ihrer Haft?

„Ich war in Prag-Ruzyně in Haft und hatte dort mit vielen Zellenspioninnen zu tun. Nur ein einziges Mal habe ich mit einem politischen Häftling gesessen. 1968 waren ja alle politischen Häftlinge entlassen worden.“

Sie haben über Ihre Erfahrungen in der Haft auch ein Buch geschrieben.

„Ja, das Buch ist in Berlin im Christoph Links Verlag erschienen und heißt ‚Im Netz der Gedichte’. Es gibt auch eine tschechische Übersetzung, dort heißt es ‚V síti dějin‘, also ‚Im Netz der Geschichte’. In dem Buch habe ich versucht aufzuklären, was eigentlich die besondere Behandlung in der Zelle bedeutet. Ich würde das heute als psychische Folter bezeichnen. Aber ich kann nicht genau definieren, was von der Stasi gesteuert wurde. Die Person, mit der ich zusammen war, war ein bisschen verrückt, man hat mich mit einer Frau in die Zelle getan, die Boarderlinerin war. Das war die Steuerung. Was dann im Einzelnen daraus wird, das ist sozusagen dem freien Fall überlassen.“

Seit der Niederschlagung des Prager Frühlings sind 40 Jahre vergangen, aus der Haft entlassen wurden Sie 1971. Wie hat diese ganze Geschichte danach ihr Verhältnis zu Prag geprägt? Ich nehme an, Sie konnten ja nicht so ohne weiteres wieder zurückkommen. Waren Sie erst in den neunziger Jahren wieder hier? Und welche Beziehung konnten Sie zu Prag aufrechterhalten?

„Zunächst gab es da natürlich ein großes Opfer: Meine persönliche Beziehung, meine Liebesbeziehung zu Petr Uhl, war beendet. Ich konnte nicht nach Prag, und er konnte nicht nach Deutschland. Zumindest nicht ohne auszusiedeln. Er hat dann hier geheiratet, und das ist auch eine gute Ehe, eine gute Familie geworden. Wir sind heute alle miteinander befreundet. Aber obwohl der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel gegenüber dem tschechoslowakischen Botschafter immer wieder angemahnt hat, dass ich nach Prag reisen sollte, durfte ich vor der Samtenen Revolution nicht kommen. Danach bin ich dann natürlich wieder gekommen, und ich habe auch versucht, meine eigene Geschichte aufzuklären.“

Wenn Sie die Reflexion über das Jahr 1968 heute beurteilen: Sind Sie zufrieden, oder kommt Ihnen da etwas zu kurz?

„Ich glaube die Diskussion unter den 68ern im Osten ist relativ klar. Die haben ihre Geschichte gut aufgearbeitet. Ich sehe eher einen Mangel in der tschechischen Gesellschaft, in der gegenwärtigen Politik. Zum Beispiel, hat sich die Politik noch nicht bei denen bedankt, die damals Widerstand geleistet haben. Auch bei mir hat sich noch niemand bedankt. Das ist so, als ob das nicht gewesen wäre. Jeder Botschafter, der einen Brief geschmuggelt hatte, hat eine Plakette oder einen Orden bekommen, und wir, die wir wirklich etwas geleistet haben, haben nichts gekriegt. Wir haben ja auch von Berlin aus noch eine illegale Zeitschrift gemacht: ‚Informační materiály‘. Die haben wir auch ins Land gebracht. Da ist wirklich viel passiert, was man honorieren müsste.“