Jan Janský und der tschechische Mythos über die Entdeckung der Blutgruppen
Vor 100 Jahren ist Professor Jan Janský (1873-1921) gestorben. Er arbeitete fast sein ganzes Leben lang als Arzt an der Psychiatrischen Klinik in Prag. In Tschechien ist immer noch in einem Teil der Öffentlichkeit die Meinung verbreitet, dass er Entdecker der vier Blutgruppen gewesen sei. Wie dieser Mythos entstanden ist, darüber erfahren Sie mehr im folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte.
Die Überzeugung, dass Jan Janský die vier Blutgruppen entdeckt habe, ist hierzulande seit Jahrzehnten im allgemeinen Unterbewusstsein verankert. Der wirkliche Entdecker der Blutgruppen war jedoch der österreichisch-amerikanische Forscher Karl Landsteiner, der 1930 dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Soňa Štrbáňová befasst sich mit Wissenschaftsgeschichte. Die Biochemikerin und Historikerin arbeitet am Institut für Gegenwartsgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Ihren Worten zufolge bestätigte Landsteiner, dass es zu einer Agglutination roter Blutkörperchen kommt, wenn das Blut von zwei fremden Menschen vermischt wird. Anschließend zerfallen die roten Blutkörperchen, und es ist wahrscheinlich, dass die betroffenen Menschen sterben. Forscherin Štrbáňová dazu:
„Für die Medizin war es notwendig zu erforschen, warum es zu dieser fatalen Agglutination kommt. Landsteiner kam nach vielen Versuchen zum Schluss, dass dies nach dem Kontakt des Bluts mit einem fremden Blutserum geschieht und dass es sich um eine immunologische Reaktion handelt. Mit dieser wehrt sich das Immunsystem eines Menschen gegen fremde Blutkörperchen. Am wichtigsten war jedoch, dass er drei Typen von Blut unterschied, die später Blutgruppen genannt wurden. Landsteiner selbst bezeichnete sie 1901 mit den großen Buchstaben A, B und C, wobei die Gruppe C universelle Spender hatten, deren Blut jeder bekommen konnte. Ein Jahr später entdeckten Landsteiners Kollegen Alfred von Decastello und Adriano Sturli, dass es noch eine vierte Blutgruppe gibt. Diese nennt man heutzutage AB. Die Menschen mit dieser Blutgruppe sind universelle Blutempfänger. Weil schon 1902 alle vier Blutgruppen bekannt waren, konnte 1907 in New York die erste Transfusion durchgeführt werden.“
Bluttests als diagnostische Methode in der Psychiatrie?
Jan Janský arbeitete an der Psychiatrischen Klinik in Prag. Wie kam es dazu, dass sich ein Psychiater mit Bluttests beschäftigte? Wie die Expertin betont, ist es für Ärzte wichtig, verschiedene Erkrankungen einfach diagnostizieren zu können.
„Bei psychischen Krankheiten ist die Diagnose besonders schwierig. Janský kam auf die Idee, die Verklumpung von Blutzellen bei psychisch Kranken mit der bei gesunden Menschen zu vergleichen. Er stützte sich dabei auf die Tradition der medizinischen Fakultät, an der biochemische Blutanalysen durchgeführt wurden. Janský war jedoch kein Biochemiker, sondern Psychiater. Und seine Forschungen zielten auf die Diagnostik in der Psychiatrie.“
Laut Soňa Štrbáňová war sich Jan Janský dessen bewusst, dass die Methode der Agglutination sehr präzise sein musste, um nachweisbare Resultate zu haben. Er präzisierte die bereits bekannte Methode der Blutverklumpungsreaktion, um keine falschen Ergebnisse zu bekommen. Dies sei sein großes Verdienst gewesen, so die Expertin:
„Er nutzte die Methode, um ungefähr 130 gesunde und psychisch kranke Menschen zu testen. Das war damals eine verhältnismäßig große Zahl an Getesteten. 1907 veröffentlichte er einen Fachbeitrag mit dem Titel ‚Hämatologische Studien an Psychotikern‘. Darin kam er zum Schluss, dass sich die Agglutinationsreaktionen bei kranken und bei gesunden Menschen nicht voneinander unterschieden. Deswegen konnte die Methode nicht für diagnostische Zwecke in der Psychiatrie genutzt werden.“
Wichtig war laut Štrbáňová jedoch ein weitere Erkenntnis: Janský bemerkte, dass bei den getesteten Personen vier Bluttypen vorkamen und dass sich diese durch ihre Verklumpungseigenschaften voneinander unterschieden. Er bestätigte also das, was die US-amerikanischen Forscher schon in den Jahren 1901 und 1902 entdeckt hatten. Diese hatten zudem auch Bluttransfusionen durchgeführt. Worin bestand also genau das Verdienst von Jan Janský?
„Darin, dass er die Existenz der vierten Blutgruppe bestätigte, die wir heute AB nennen. Nach Janský wurde diese vierte Blutgruppe nochmals 1910 vom US-Amerikaner William Moss bestätigt.“
Janský kannte Landsteiners Arbeiten
Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass Janský ein unabhängiger Entdecker der vier Blutgruppen sei, argumentieren damit, dass er Landsteiners Arbeiten nicht gekannt habe. Dies entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Die Expertin erklärt warum:
„Janský erwähnte in seinem Artikel von 1907 sowohl Landsteiner als auch weitere US-amerikanische Forscher, die ihre Erkenntnisse zuvor veröffentlicht hatten. Leider kann Janský deswegen auch nicht für einen unabhängigen Entdecker der vier Blutgruppen gehalten werden.“
In der Bezeichnung der Blutgruppen herrschte mehrere Jahre lang Chaos, sie wurden mit Großbuchstaben, aber auch mit römischen Ziffern bezeichnet.
„In jeder Arbeit wurden andere Bezeichnungen der Blutgruppen benutzt. 1927 wurde eine einheitliche Form durchgesetzt. Seitdem werden sie A, B, Null und AB bezeichnet.“
Zu seiner Arbeit mit den Tests der Blutagglutination kehrte Jan Janský später nicht mehr wieder zurück. Im Mittelpunkt seines Interesses stand hingegen die Psychiatrie. Er schrieb viele wissenschaftliche Abhandlungen über psychiatrische Probleme.
Soňa Štrbáňová sagt, dass Jan Janský in den Fachkreisen in den USA bekannt gewesen sei. 1908 informierten die deutschsprachigen „Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte auf den Gebieten der Neurologie und Psychiatrie“ über die Arbeiten des Prager Professors.
„Es war damals üblich, dass Abhandlungen, die tschechisch, ungarisch oder in anderen kleineren Sprachen verfasst waren, in Übersetzung in den Fachzeitschriften erschienen. Auf die deutsche Abhandlung wurde auch der Mitentdecker der vierten Blutgruppe aufmerksam gemacht, der US-amerikanische Arzt William Moss. Er zitierte die Arbeit von Janský. Und der Name wurde ‚dschenski‘ ausgesprochen. Niemand interessierte sich dafür, woher der Jansky – ,dschenski‘ – kommt. Der renommierte tschechische Chirurg Jiří Diviš interessierte sich wegen Operationen für Bluttransfusionen. Er las die Arbeit von Moss und den dort zitierten Jansky. Der Chirurg hielt ihn damals für einen US-Amerikaner.“
Der von Janský durchgeführte Blutagglutinationstest wurde damals in einigen Ländern als „amerikanischer“ Test bezeichnet. 1923 – und damit zwei Jahre nach dem Tod des tschechischen Psychiaters – nahm Diviš an einem Chirurgie-Kongress in London teil. Dort fragte ihn ein schwedischer Kollege nach seinem – wie er sagte – „berühmten Landsmann Janský“.
„Diviš kehrte nach Hause zurück. Dort brach Panik aus, dass man über einen dermaßen berühmten Landsmann nichts wisse. Diviš schrieb darum einen Artikel für die Zeitschrift der tschechischen Ärzte über seinen ,berühmten Landsmann, den Entdecker der Blutgruppen‘. In den Ärztekreisen begann sich der Gedanke zu verbreiten, dass der in Vergessenheit geratene Arzt Janský vier Blutgruppen entdeckt hätte.“
Rührselige Biopic beeinflusst das Kinopublikum
1930 erhielt Karl Landsteiner für seine Entdeckung der Blutgruppen den Nobelpreis. 1948 ergriffen die Kommunisten die Macht in der Tschechoslowakei.
„Das kommunistische Regime bot den Nährboden für derartige Mythen und Legenden. In den 1950er Jahren wurde eine nationalistische Kampagne losgetreten, bei der danach gesucht wurde, welche Entdeckungen die ‚bösen westlichen Forscher‘ den Tschechoslowaken gestohlen haben. Der einflussreiche marxistische Historiker der Medizin Miloslav Matoušek schrieb 1954, dass Landsteiner den Nobelpreis zu Unrecht erhalten habe und dass der Entdecker der Blutgruppen zweifelsohne Jan Janský gewesen sei. Es kann auch sein, dass auf Anlass des kommunistischen Historikers der Film über Janský mit dem Titel ‚Das Geheimnis des Bluts‘ gedreht wurde. Die Titelrolle spielte der damalige tschechische Filmstar Vladimír Ráž.“
Der Film enthält der Forscherin zufolge komplett fehlerhafte Passagen über Janskýs Arbeit. Gezeigt wird beispielsweise, wie der Arzt im Ersten Weltkrieg an der Front erfolgreich Bluttransfusionen durchführte. In der Wirklichkeit führte Janský in seinem Leben keine einzige Transfusion durch und arbeitete während des Kriegs vorwiegend in seiner Klinik. Doch dieses rührselige Biopic zeigt Wirkung beim Kinopublikum:
„Dies genügte, dass sich der Mythos über Janskýs Entdeckung fest im Bewusstsein der Öffentlichkeit sowie der Fachleute einnisten konnte. Erst in den 1980er Jahren erschienen Abhandlungen zweier tschechischer Forscher, die wenigstens teilweise den Mythos einzureißen versuchten. Aber kaum jemand hörte ihnen zu. Bis heute glaubt ein Großteil der tschechischen Bevölkerung, dass Janský, der ein hervorragender Mensch und ausgezeichneter Forscher war, die vier Blutgruppen entdeckt hat.“