Corona-Pandemie: Historiker werden uns keinesfalls als tapfer bezeichnen
Die Spanische Grippe von 1918 und die heutige Corona-Pandemie: Der in Prag lebende Arzt und Medizinhistoriker Harald Salfellner erläutert im Interview die Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Seuchen.
Herr Salfellner, vor ungefähr einhundert Jahren wurde die Welt von der der Spanischen Grippe heimgesucht. Können Sie die Folgen zusammenfassen – für die ganze Welt und besonders für die Tschechoslowakei?
„Weltweit wurde ein großer Verlust an Menschen verzeichnet. Man weiß nicht, wie viele Menschen im Endeffekt starben, die Schätzungen gehen von 20, 30, 40 oder 50 Millionen aus. Es ist ein Wettlauf um die höchste Zahl. Das ist die erste und größte Folge. Ich verweise gerne darauf, dass aufgrund des Alters der Betroffenen – es waren durchwegs junge Leute – auch sehr viele Menschen erst gar nicht geboren wurden. Das hinterließ in den nachfolgenden Jahrzehnten eine demografische Lücke. Dann entstand natürlich auch ein wirtschaftlicher Schaden. Er ist aber nicht zu beziffern und muss wahrscheinlich auch niedriger angesetzt werden als im Fall von Corona, weil es weltweit so gut wie keine Gegenmaßnahmen durch die regierenden Behörden gab. In der Tschechoslowakei – oder vor Oktober 1918 in den böhmischen Ländern – lag der Blutzoll jedenfalls sehr hoch. Wir gehen von etwa 50.000 bis 70.000, vielleicht sogar 80.000 Todesopfern aus. Und das ist für ein solch kleines Gebiet ein ganz erheblicher Schaden.“
„Die Gesellschaft im Jahr 1918 ist ermüdet. Sie friert, sie hungert, man hat ganz andere Sorgen, als sich um eine Grippe zu kümmern.“
Wie hat die Gesellschaft darauf damals reagiert? Da bietet sich ja der Vergleich zu heute an. Viele Staaten haben wegen Corona einen Lockdown verhängt, und viele Bereiche des Lebens funktionieren nicht. Die Leute sind gezwungen, zu Hause zu sitzen. Wie war es damals?
„Die politischen Verhältnisse und die sozialen Verhältnisse waren gänzlich anders. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns damals im letzten Abdruck des Ersten Weltkrieges befinden, dass große politische Feuer leuchten, dass die Gesellschaft ermüdet ist. Sie friert, sie hungert, man hat ganz andere Sorgen, als sich um eine Grippe zu kümmern. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Jahr 1918 technologisch auf einem völlig anderen Stand ist. Die Medienlandschaft beschränkt sich im Wesentlichen auf Zeitungen, und diese berichten damals nur sehr zurückhaltend. Es gibt kaum ein Titelblatt über die Spanische Grippe, in den böhmischen Ländern sogar kein einziges. Wenn über die Grippe berichtet wird, dann in der Hochphase, in der Spitzenzeit rund um den 10. Oktober. Da erscheinen größere Artikel, so etwa eine halbe Seite lang auf Seite 3 oder Seite 5. Also bei weitem nicht zu vergleichen mit dem heutigen Medienfeuerwerk. Die Menschen hatten Angst, aber diese Angst war weder von den Regierungen noch von den Medien gesteuert, wie das heute der Fall ist. Sondern sie hatten ganz einfach Angst, weil man am Brunnen erzählte, dass jetzt so viele krank seien und besonders junge Leute stürben. Diese Ängste bestanden also, aber im Vergleich zu heute wurde die Grippe in der Bevölkerung nur wenig rezipiert. Man hat sie auch nicht unbedingt wahrgenommen, wenn man nicht unmittelbar von ihr betroffen war.“
Das heißt, die Menschen haben sich vor der Erkrankung nicht geschützt, wie wir das heute machen?
„Man wusste sich nicht zu schützen. Es gab ja keinerlei Schutzimpfung, die man hätte anwenden können. Man war sich dessen schon bewusst, dass man sich in den Straßenbahnen anstecken kann und große Menschenmengen meiden sollte, aber es gab bei weitem nicht diese Aufrufe vonseiten der Politik. Die Schulen wurden für zirka zwei Wochen geschlossen – aber das war damals schon umstritten und ist es auch heute noch. Damals regte sich starker politischer Widerstand dagegen. Denn man schließt die Schulen ja nicht nur so aus Jux und guter Laune, sondern das ist ein schwerwiegender Eingriff, zu dem man damals nicht bereit war.“
„Nirgendwo ist belegt, dass irgendjemand Gesichtsmasken getragen hätte, auch Ärzte nicht.“
Aus der Zeit von damals gibt es auch Bilder von Menschen mit Atemschutz-Masken. Die Aufnahmen stammen aber eher aus den USA oder anderen Ländern. Wie war es hierzulande?
„In den böhmischen Ländern gab es noch nicht einmal Verbandsmaterial, um die vielen Zehntausend Menschen mit Kriegsverletzungen zu versorgen, die in den Lazaretten lagen. Man verwendete sogar Holzwolle. Die Zustände waren grauenhaft. Es fehlte an allem, und man hatte schon gar keinen Zellstoff oder anderes Material, um Gesichtsmasken herzustellen. Ohnehin war dies bei uns völlig unüblich. Nirgendwo ist belegt, dass irgendjemand Gesichtsmasken getragen hätte, auch Ärzte nicht. Anders war das jedoch in den USA, der Schweiz oder in Frankreich und England. Dort litt man nicht an solch großer materieller Not und propagierte bereits den Mundschutz.“
Wie wurden die Patienten behandelt, die an der Grippe erkrankten? Mussten sie sich zu Hause von ihren Verwandten versorgen lassen, oder funktionierten auch Kliniken und ein medizinisches System, in dem ihnen geholfen werden konnte?
„Es funktionierte natürlich die klinische Landschaft, das Allgemeine Krankenhaus am Karlsplatz etwa nahm viele Grippen-Patienten auf. Und auch weitere Prager Krankenhäuser waren voll mit Grippen-Patienten. Aber die Kapazitäten reichten nicht, und die Patienten wurden in der Hochphase abgelehnt, zurückgeschickt und mussten zu Hause gesundwerden oder sterben. Es gab keine spezifische Therapie, aber es bestanden mehrere Möglichkeiten, die Symptome zu behandeln. Die Ärzte hatten ein großes Wissen darin, auch ohne Intensivstation Menschen intensivmedizinisch am Leben zu halten. Üblich war etwa, Sauerstoff über Flaschen zu geben. Selbstverständlich geschah dies in den Kliniken. Aktuell habe ich aber in den Archiven auch einen Fall entdeckt, bei dem es privat, in den Haushalten, zu der Gabe von Sauerstoff kam.“
Die Epidemie rollte damals in mehreren Wellen heran und dauerte mehrere Jahre lang. Dann aber klang sie auf einmal ab. Heute sehen wir in der Impfung die große Hoffnung. Diese Möglichkeit bestand damals aber nicht. Warum ging damals die Epidemie zu Ende?
„Sie hatte eine sehr typische Wellenbewegung. Hierzulande sind vier starke Wellen nachweisbar, die letzte 1920. Aber danach war sie nicht zu Ende. Wir können bis weit in die 1920er Jahre hinein eine erhöhte Sterblichkeit durch diese Grippe nachweisen. Und letztlich hat diese Variante H1N1 das ganze Grippe-Geschehen des 20. Jahrhunderts und auch noch des 21. Jahrhunderts mitbestimmt. Denn – und ich war immer erstaunt, wie die Angelegenheit während dieser Corona-Krise schrecklich banalisiert wird – ein Virus ist nicht nur einfach ein Virus, es kursiert in einer unglaublich großen Zahl von unterschiedlichen Linien. Man muss sich das deutlich komplexer vorstellen. Das Grippe-Virus, wie auch das Corona-Virus, steht in einer ständigen kriegerischen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Immunsystem. Das Immunsystem wiederum wird stärker durch die Kommunikation mit den Viren, und die Viren rüsten wieder durch Mutationen nach. Das heißt, das ist ein sehr langer und flexibler Prozess, und dieser ließ die Spanische Grippe eigentlich erst in den späten 1920er Jahren in eine stärkere saisonale Grippe auslaufen.“
„Die Spanische Grippe lief eigentlich erst in den späten 1920er Jahren in eine stärkere saisonale Grippe aus.“
Sie haben vor drei Jahren ein Buch über die Spanische Grippe herausgegeben und dieses jetzt aktualisiert und um Bezüge zur derzeitigen Corona-Pandemie ergänzt. Welche Bezüge sehen Sie?
„Es gibt sehr viele klinische Gemeinsamkeiten, weil ganz einfach respiratorische Erkrankungen alle nach einem gewissen Strickmuster funktionieren. Diese Krankheiten sind zwar nicht vom Erreger, aber von den Grundprinzipien sehr nahe verwandt, weshalb es eben auch ähnliche Erscheinungen gibt. Mehreres war von Anfang an stark unterschiedlich, so etwa das Präferenzalter. Wir wissen, dass damals sehr junge Menschen betroffen waren, allerdings nicht nur, auch Greise starben. Und ebenso die Mütter. Es war eine Katastrophe für eine schwangere Frau oder Frau im Wochenbett, mit dieser Grippe konfrontiert zu werden, und führte zu einem sehr hohen Sterberisiko. Das ist im Fall von Corona nicht gegeben oder zumindest bei Weitem nicht in diesem Ausmaß.“
Wenn wir den Umgang der Gesellschaft mit der Krankheit damals und heute vergleichen: Glauben Sie, dass wir eine Lehre aus der Pandemie vor 100 Jahren gezogen haben?
„Ich denke nicht, dass wir Lehren gezogen haben, sonst wären wir vorbereitet gewesen. Wir sind aber auch in einer anderen Hinsicht ganz andere Menschen als unsere Ur-Urgroßeltern. Not, Hunger, Empfindung der Kälte – das kennen wir überhaupt nicht. Wir leben in zentralgeheizten Wohlfühlstuben und sind plötzlich damit konfrontiert, dass es im Leben auch etwas anderes gibt als Wellness. Auf einmal sind wir den Gefahren, den Risiken des Lebens ausgesetzt, die wir so gerne wegschieben würden. Und wir reagieren völlig überzogen, hysterisch, verängstigt, wir geben kein gutes Bild ab gegenüber künftigen Medizinhistorikern. Sie werden uns keinesfalls als tapfer bezeichnen. Anders verhielten sich die Menschen um 1918, die so viel Leid erfahren hatten, auch durch den Krieg, sodass sie ziemlich tapfer diese Prüfung überstanden, ihre Toten beerdigten und das Leben fortsetzten.“
„Wir reagieren überzogen, hysterisch, verängstigt.“
Wenn wir heute zurückschauen in die Jahre der Spanischen Grippe, dann taucht die Pandemie eigentlich nur am Rand auf. Man spricht von den damaligen politischen und wirtschaftlichen Ereignissen und nur wenig von der Pandemie. Heute wirkt es so, als ob Corona das Wichtigste auf der Welt wäre. Glauben Sie, dass die Historiker im Rückblick auf unsere Zeit das anders sehen werden?
„Die Historiker werden in erster Linie diesen kollektiven Wahnausbruch beschreiben, an dem wir weltweit leiden. In erster Linie wird man über die wirtschaftlichen Auswirkungen schreiben und über die Art, wie wir mit dieser Pandemie umgegangen sind.
Mehr über die Spanische Grippe und ihre Bezüge zur Corona-Pandemie erfahren Sie im Band „Die Spanische Grippe. Eine Geschichte der Pandemie von 1918“ von Harald Salfellner. Die zweite, erweiterte Ausgabe ist im vergangenen Jahr im Prager Vitalis-Verlag erschienen.