Jiri z Podebrad
Im heutigen Kapitel aus der tschechischen Geschichte wollen wir Sie in die tiefe Vergangenheit einladen, in eine Zeit religiöser und sozialer Unruhen, kriegerischer Ausseinandersetzungen, Streitigkeiten um den böhmischen Königsthron - kurz in das 15. Jahrhundert und die Zeit des bemerkenswerten Jiri z Podebrad, der bereits vor über 500 Jahren von der Gründung einer europäischen Friedensunion träumte. Am Mikrophon begrüsst Sie Katrin Bock.
Wer von Ihnen schon einmal in Prag war und mit der Metro gefahren ist, hat vielleicht diese Ansage gehört und sich gewundert, nach wem wohl diese Station mit dem schier unaussprechbaren Namen benannt ist. Nun Jiri z Podebrad bzw. Georg von Podebrady auf deutsch, ist in der langen böhmischen Geschichte der einzige böhmische König, der keinem ausländischen hochgestellten Adelsgeschlecht entstammte, sondern einem böhmischen. 1458 war er von den böhmischen Ständen zum König gewählt worden - als einer der ihren, der das Land aus dem herrschenden Chaos führen sollte.
Das Königreich Böhmen war Mitte des 15. Jahrhunderts von den Folgen der Hussiten-Kriege gekennzeichnet. Diese waren nach der Verbrennung des Jan Hus auf dem Scheiterhaufen in Konstanz ausgebrochen und hatten knapp 20 Jahre lang das gesamte Land in Mitleidenschaft gezogen. Seit dem Tode König Vaclavs IV. 1420 war das Land praktisch ohne Herrscher. Auch wenn der Krieg 1433 formell beendet wurde und den Anhängern des Jan Hus einige religiöse Freiheiten versprochen wurden, herrschte in den böhmischen Ländern noch immer Chaos - Anhänger des Jan Hus kämpften gegen Katholiken, königliche Städte gegen Adelige und das gesamte Ausland schaute mit Argwohn auf das Königreich, in dem Ketzer ihre Macht ausbreiteten und sogar einer aus ihren Reihen zum Bischof ernannt worden war.
Eine Besserung der Zustände sollte der Thronfolger Ladislav bringen, der letzte Sprössling aus dem Luxemburger Geschlecht - ein Enkel Kaiser Sigismunds. Im Alter von 13 Jahren war Ladislav 1453 zum böhmischen König gekrönt worden, doch de facto wurden die böhmischen Angelegenheiten von einem Verwalter geführt - und dies war Jiri z Podebrad. Dieser leitete einige Reformen zur Stärkung der Königsmacht ein und vergass dabei nicht, seine eigenen Ländereien und seinen Einfluss zu vergrössern. Neben König Ladislav war Jiri z Podebrad bald der mächtigste Mann im Königreich.
1457, im Alter von 17 Jahren, starb Ladislav plötzlich in Prag. Bis heute ist die Todesursache unbekannt - umso mehr wurde und wird spekuliert. Es wurde gemunkelt, dass wohl auch der mächtige Verwalter Jiri z Podebrad seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Nachgewiesen wurde bis heute jedoch kein unnatürlicher Tod. Und so war der böhmische Königsthron wieder einmal verwaist. Das Geschlecht der Luxemburger, das knapp 150 Jahre lang die Geschicke der böhmischen Länder geführt hatte, war ausgestorben. Ein neuer König wurde gesucht.
Ein Jahr lang benötigte Jiri z Podebrad, bis er die Mehrheit der böhmischen Stände davon überzeugt hatte, ihn zum König zu wählen. Am 7. Mai 1458 war es soweit: Jiri wurde in Prag zum böhmischen König gekrönt - als erster und einziger, der aus einem einheimischen Geschlecht stammte und der von der böhmischen Landesversammlung ungeachtet früherer Verträge und Abkommen oder dynastischer Angehörigkeit gewählt worden war. In die Geschichte ging er als "Ketzerkönig" oder "Hussitenkönig" ein. In ihn setzten die Bewohner Böhmens ihre Hoffnung auf die Wiederkehr von Frieden und Ordnung im Lande und eine internationale Anerkennung ihrer Glaubensprinzipien - und Jiri z Podebrad bemühte sich mit allen Kräften, diese Hoffnungen zu erfüllen.
Zeitzeugen zufolge soll er ein hervorragender Diplomat und Politiker gewesen sein, der zwar nur mangelhaft deutsch und kein Latein sprach bzw. verstand und nur eine geringe Bildung genossen hatte. Doch Jiri verstand es, sich mit gelehrten Ratgebern zu umgeben, deren Ideen er gerne übernahm. Historiker verweisen auf Jiris Verhandlungstalent und sein Ziel, unnötiges Blutvergiessen zu vermeiden. Stets soll Jiri bestrebt gewesen sein, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen. Und so kam er auf die Idee, eine europäische Friedensunion zu gründen.
Die Idee war angesichts einer konkreten Bedrohung des christlichen Abendlandes entstanden: die Türken hatten auf ihrem Vormarsch nach Mitteleuropa bereits den halben Balkan erobert und standen nun vor Belgrad. Nichts schien sie aufzuhalten. Der Papst wollte wie immer bei möglichen Bedrohungen der Christenwelt zu einem Kreuzzug aufrufen, doch Jiri z Podebrad hatte einen anderen Plan:
Die christlichen Staaten Europas sollten ihre gegenseitigen Konflikte vergessen und sich gemeinsam gegen das Osmanenreich verbünden. Zu diesem Zweck sollte, so Jiris Idee, eine europäische Friedensunion entstehen, eine Art Vorläufer der Uno. Diese hätte als oberstes Ziel die Vermeidung von Kriegen und die Friedenserhaltung in ganz Europa. 1464 hatte Jiri z Podebrad seinen Plan bis ins Detail ausgearbeitet und schickte ihn an die europäischen Herrscherhöfe. Wörtlich hiess es in dem Dokument:
"Und weil wir danach streben, dass solche Kriege, Raubzüge, Wirren, Brände und Morde aufhören und ein für alle mal ein Ende haben und stattdessen durch die Bildung einer Einheit gegenseitige Liebe und Bruderschaft eingeführt werden, haben wir uns entschieden, solch einen Bund zu gründen, ein Bündnis des Friedens, der Bruderschaft und der Eintracht, das zur Ehre Gottes immerwährend existieren solle und das für uns, unsere Erben und unsere zukünftigen Nachfolger für ewige Zeiten in folgender Form bestehen soll."
Die Friedensunion sollte aus gleichberechtigten Mitgliedstaaten bestehen, die ihre Delegierten in das Hauptorgan der Union, die ständige Versammlung, entsenden. Zudem sollte ein Herrscherrat und ein entsprechender Beamtenapparat entstehen. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes, der die Konflikte zwischen zwei Mitgliedstaaten lösen sollte. Finanziert sollte die Friedensunion durch Zahlungen der Mitgliedsländer. Heute äusserst aktuell klingt die vorgesehene Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung sowie die Absprache der Lebensmittelpreise unter den Mitgliedsstaaten. Alle fünf Jahre sollten sich der Sitz und der Vorsitzende der Union ändern. Erster Sitz der Generalversammlung sollte Basel sein, erster Vorsitzender -sozusagen der Uno-Generalsekretär des 15. Jahrhunderts- sollte der französische König Ludwig XI. werden. Die Union sollte nicht nur Konflikte innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten lösen, sondern auch zwischen Nichtmitgliedsstaaten vermitteln. Jeder frischinthronisierte Herrscher eines Mitglieds sollte der Friedensunion und ihren Grundsätzen Treue schwören.
So aktuell all diese Gedanken des böhmischen Königs heute klingen mögen, für die Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts waren sie wohl zu modern, denn Jiri scheiterte mit seinem Friedensprojekt. Er konnte sich zwar der Unterstützung und Sympatien einiger Herrscher erfreuen, doch zu einer Konkretisierung des Planes kam es nicht. Denn die Verwirklichung der Idee hätte eine Einschränkung der Macht des Papstes und des Kaisers bedeutet - für das 15. Jahrhundert eine zu revolutionäre Vorstellung.
Jiri z Podebrad hatte bei seinen Bemühungen, eine europäische Friedensunion zu gründen, auch seine eigene Lage im Kopf. Rund 60 Jahre vor dem Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg war das Königreich Böhmen das einzige nichtkatholische Land Europas, sein König - Jiri z Podebrad - der einzige nichtkatholische Herrscher des christlichen Abendlandes. Die Beziehungen zum Vatikan verschlechterten sich zunehmend und Jiri musste handeln, wollte er eine Isolierung seines Landes vermeiden. Eine geeignete Form, Verbündete zu gewinnen, war die Schaffung einer Union gegen die real drohende Gefahr der Türken. Doch diese Idee scheiterte.
Jiris Lage verschlechterte sich stetig - 1466 hob der Papst die 30 Jahre zuvor garantierten Religionsfreiheiten in Böhmen auf. Jiri erklärte er zum Ketzer, sprach einen Bann über ihn aus und rief zu einem Kreuzzug gegen das ketzerische Böhmen auf. 1468 fiel dann ein Heer des katholischen Königs von Ungarn, Matthias Corvinus, in die Böhmischen Länder ein. Ein langjähriger Krieg begann, den Jiri stets durch Verhandlungen zu beenden versuchte. Am 22. März 1471 starb Jiri z Podebrad im Alter von 51 Jahren. Er empfahl, nicht einen seiner Söhne, sondern den polnischen Katholischen Prinzen Vladislav Jagiello zu seinem Nachfolger zu wählen, da nur so der Krieg beendet werden könne. Die Böhmischen Stände folgten seinem Rat: von 1471 bis 1526 regierten Jagiellonen die böhmischen Länder - doch zur Ruhe kam das Böhmische Königreich noch lange nicht.
Es ist eine Ironie des Schicksals, das gerade dieser friedliebende böhmische Herrscher nicht nur zur damaligen Zeit der mächtigste Feldherr war, der über das grösste Heer im heiligen römischen Reich verfügte, sondern auch die meiste Zeit seiner 13jährigen Herrschaft kriegerische Auseinandersetzungen führte - gegen Widersacher im eigenen Land, päpstliche Heere und schliesslich gegen den ungarischen König. Sein Traum einer europäischen Friedensunion wurde erst viereinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod realisiert.