Junge Tschechen - gesehen mit deutschen Augen

Ulrich Franz

Es ist nur wenige Wochen her, da wollte das "Zentrum zur Analyse der öffentlichen Meinung" (CVVM) von den Tschechen wissen, welche Nationen ihnen am sympathischsten sind. Hier gab es wohl wenig zu grübeln, denn die Antworten fielen eindeutig aus: Die Tschechen selbst sind es, die sich am sympathischsten finden. Christian Rühmkorf hat sich an einen Ort begeben, wo die Zukunft dieses Landes - also die Jugend - ausgebildet und erzogen wird, und zwar von Deutschen. Welchen Blick haben sie auf die Tschechen, denen sie jeden Tag hautnah gegenüberstehen?

Christian Bergen
Ulrich Franz ist Lehrer. Und Deutscher. Aber er unterrichtet tschechische Schüler am Gymnasium F.X. Saldy im norböhmischen Liberec / Reichenberg. Dort gibt es eine Deutsche Abteilung, an der die Schüler das deutsche Abitur machen können.

"Ich habe vor einem halben Jahr angefangen hier zu unterrichten und muss sagen, dass mir vom ersten Tag an alle Klassen sehr offen begegnet sind. Das heißt, sie waren neugierig, wer da kommt und waren von der grundsätzlichen Einstellung her erst einmal bereit mitzuarbeiten und bereit zuzuhören. Und damit war ein Potenzial da, aus dem man etwas machen konnte. Und das auch in Klassenstufen, die normalerweise als schwierig gelten. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich mein strengstes Gesicht aufgesetzt habe und eine ganz straff geplante Stunde in der Tasche hatte: ich machte die Tür auf, sah in die Gesichter und hab die ganze Planung umgeschmissen, weil man mit denen sehr nett arbeiten konnte."

Dennoch - Schüler bleiben Schüler, egal in welchem Land. Das stellte Ulrich Franz trotz des überraschend guten Beginns schon ein paar Monate später fest:

"Wenn wir den Vergleich zu den deutschen Schülern ziehen, muss ich sagen, dass natürlich jeder Schüler bemüht ist, Aufwand und Nutzen in einem für ihn vernünftigen Verhältnis zu halten. Und in dieser Beziehung unterscheiden sich die tschechischen Schüler nicht von den deutschen."

Ulrich Franz
Christian Bergen, Lehrer für Geschichte und Geografie, habe ich in einer Freistunde im Cafe getroffen. Er ist vor zweieinhalb Jahren nach Liberec gekommen, um tschechische Schüler zum deutschen Abitur zu führen. Der Westfale musste gar nicht erst den Fuß in ein Klassenzimmer setzen, um zu erkennen, dass hier etwas anders ist:

"Das erste, was mir aufgefallen ist, als ich eine tschechische Schule betrat, waren die Schuhe der Schüler. Etwas, was ich aus Deutschland nicht kannte: dass man sich in der Schule umzieht und eine Art Hausschuhe oder Sandalen oder Ähnliches anzieht. Das ist etwas, was in Deutschland genau anders herum ist. Dort legen die Schüler besonders viel Wert auf teure, exklusive Schuhe. Und ich habe es, als ich das erste Mal hierher kam, als sehr wohltuend empfunden, dass auf solche Äußerlichkeiten scheinbar kein oder weniger Wert gelegt wird. Ganz allgemein kann ich sagen, dass das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern entspannter ist. Das liegt sicherlich daran, dass tschechische Schüler einen grundsätzlichen Respekt gegenüber älteren Menschen im Allgemeinen und Lehrern im Besonderen haben. Und das macht das Unterrichten für mich angenehm. Angenehmer als in Deutschland."

Kathrin Eger arbeitet seit einem Jahr als Geografie- und Mathe-Lehrerin in der Tschechischen Republik. Bis zum 31. Januar vergangenen Jahres hatte sie an einem Gymnasium in Leipzig unterrichtet und einen Tag später gab sie bereits ihre erste Stunde in Liberec. Ein abrupter Wechsel. Dass da in der Aufregung auch mal etwas schiefgehen kann, durfte sie gleich an ihrem zweiten Tag in der Schule erleben:

Kathrin Eger
"Ich sollte Deutsch als Fachsprache unterrichten, hatte es aber in der Aufregung verwechselt und habe angefangen Mathe zu unterrichten. Und nach guten zehn Minuten meldete sich ein Schüler und sagte: Aber Frau Eger, wir haben bei Ihnen Deutsch als Fachsprache. Das war schon lustig. Für mich eine erste Begebenheit, bei der ich gemerkt habe, wie es hier einfach läuft. Und ich fand es im Nachhinein richtig schön."

Fassen wir also mal zusammen: Tschechen sind höflich und offen, sie achten nicht so sehr auf Äußerlichkeiten und eine gewisse Geduld - man könnte auch sagen Leidensfähigkeit - scheint ihnen ebenso zu Eigen zu sein. Für Lehrer eine Schülereigenschaft von unschätzbarem Wert. Von Deutschland war Kathrin Eger gewöhnt, immer auch Sozialarbeiterin sein zu müssen und gravierende Probleme von Schülern zu lösen. Das ist seit einem Jahr anders:

"Es war für mich eine sehr angenehme Erfahrung, dass ich hier mit Problemen wie Drogen, Alkohol, Schlägereien eigentlich so gut wie nichts zu tun hatte. Dieses ganze Jahr über habe ich das nicht erlebt. Hier herrscht also ein sehr viel offenerer, freundschaftlicherer Umgang untereinander und auch im Verhältnis zu den Lehrern, was ich unendlich genieße."

Möglicherweise liegt ein Grund für diese gewisse Entspanntheit und Offenheit der Jugendlichen in der Tatsache begründet, dass tschechische Schüler ihre Freizeit nicht nur hinter dem Computer verbringen, wie Kathrin Eger erzählt. Sie singen gerne und sind am Wochenende häufig auf Wanderfahrten oder im Gebirge unterwegs. Einen tschechischen Nationalcharakter in Worte zu fassen hält Christian Bergen hingegen für schwer. Es gibt jedoch einige markante Unterschiede im Vergleich zu seinem Heimatland, wie er berichtet:

Kathrin Eger
"Zum einen ist mir als sehr positiv aufgefallen, dass die meisten Menschen zurückhaltend sind. Ich will nicht sagen introvertiert, aber es fällt auch im Straßenbild auf. Es ist relativ ruhig, auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist wenn, dann ein gedämpftes Gespräch. Als Lehrer hat man natürlich die Schwierigkeit Schüler in einer Fremdsprache aus dieser Passivität herauszulocken und zum Unterrichtsgespräch zu motivieren. Aber als Bewohner dieses Landes ist es für mich eine sehr positive Charaktereigenschaft."

Und noch etwas ist anders:

"Gerade jetzt in den langen tschechischen Wintern fällt mir auf, dass die Leute vorsichtig gehen, wenn Schnee fällt. Wenn ich das mit deutschen Verhältnissen vergleiche, da sind alle Straßen geräumt. Und wenn dann auf vereisten Stellen jemand hinfällt, dann wird der Staat verklagt. Hier ist man einfach vorsichtig. Man schaut auch mal nach oben, ob an der Dachtraufe Eiszapfen hängen, die herunterfallen können. Also hier scheint Eigenverantwortlichkeit noch größeres Gewicht zu haben."

Das kann aber auch ins Auge gehen, wie Christian Bergen in der Schule erleben musste:

"Ich kann mich erinnern: Einmal saß bei mir ein Schüler im Unterricht, der ein blaues Auge hatte. Und ich fragte ihn, was da passiert sei. Da sagte er, ihm sei ein Eiszapfen auf den Kopf gefallen."

Auch Ulrich Franz wagt nach einem halben Jahr in Tschechien noch keine Charakterprognose:

"Ich denke, es wird sicher noch etliche Zeit dauern, bis man wirklich die Feinheiten in den Mentalitäten erkannt hat - Sachen, die einem nach einem halben Jahr noch nicht auffallen, wo man in Fettnäpfchen tritt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ich denke, ich bin schon in das eine oder andere gelatscht, aber es hat sich dann auch keiner beschwert."

Die Nation im Herzen Europas hat sich selbst am meisten ins Herz geschlossen - vielleicht nicht ganz zu Unrecht.

Fotos: Autor