„Kafka hält auch in den slawischen Ländern siegreich Einzug“ - Max Brod 1964 (II)
Zur Rekapitulation: Er ist 1964 aus Tel Aviv angereist und kehrte zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder in seine alte Heimatstadt Prag zurück: der Schriftsteller, Übersetzer und Komponist Max Brod. Für Radio Prag beschrieb er damals knapp seine Gefühle, als er wieder Prager Boden betrat. Freude und zugleich Trauer um Familie und Freunde, die von den Nazis umgebracht worden waren.
„Falsche Interpretationen erscheinen in Menge. Beispielsweise ist jetzt in Amerika ein ganz lächerliches Buch von einem Professor – ich glaube, Weinberg heißt er – erschienen, das also wirklich ein Beispiel dafür ist, wie man einen Autor missverstehen kann, indem man ihn interpretiert.“
Missverstehen, indem man interpretiert. Ein Satz aus dem Munde des Kafka-Vertrauten, ein Hoffnungsschimmer, der so manchen gequälten Schüler von heute aufhorchen lässt. Aber Brod wendet sich sogleich den positiven Dingen zu:„Der Ruhm Kafkas geht um die ganze Welt. Eine Zeit lang war er im englischen, dann im französischen Sprachgebiet vorherrschend. Jetzt sieht man, dass er auch in den slawischen Ländern siegreich Einzug hält. Und tatsächlich: Es ist ja Kafka nicht als ein Dekadenter, nicht als ein Verzweifelter aufzufassen, sondern als ein Mensch, der für die ganze Menschheit – nicht etwa engherzig nur für das Judentum - eine Renaissance erhofft und erstrebt und auch erkämpft hat. Ich hörte hier eine sehr schöne Vokalsinfonie von Vratislav Sommer. Hier wurde ein Text von Kafka tschechisch vertont. Dieser Text ist geradezu charakteristisch. Ich muss den Komponisten dazu beglückwünschen, dass er diesen Text gewählt hat, in dem eine Eigenschaft der Seele Kafkas besonders zum Durchbruch kommt: sein starkes Verantwortungsgefühl. ´Einer muss wachen und ich will der Eine sein´. So ungefähr ist der Inhalt dieser wunderbaren Prosastelle, die in dieser Vokalsinfonie vertont worden ist. Ich möchte hoffen, dass die Interpretation auf dem Wege dieser Vokalsinfonie fortschreitet und sich immer weiter im positiven, aktivistischen Sinne entwickelt.“
Hier ein Auszug aus der erwähnten Vokalsinfonie, einer Kafka-Interpretation, wie Max Brod sie sich für seinen Freund gewünscht hat. Der Komponist heißt jedoch Vladimír Sommer, nicht Vratislav, wie Max Brod sich irrtümlich erinnerte.