"Kino des Vergessens" - die Normalisierung des tschechoslowakischen Films nach 1968

„Kino des Vergessens“

Wie schon im vergangenen Jahr hat auch das diesjährige Filmfestival von Karlovy Vary / Karlsbad die digitale Weltpremiere eines tschechischen Filmklassikers erlebt. Nach František Vláčils Film „Markéta Lazarová“ war es diesmal der 45 Jahre alte Spielfilm „Hoří, má panenko“, auf Deutsch als „Der Feuerwehrball“ bekannt: Gedreht wurde er vom tschecho-amerikanischen Oscar-Regisseur Miloš Forman. Der Streifen soll jetzt den Weg zu einem breiteren Publikum finden: vor allem zu den jüngeren Kinogängern. Diese wissen eher weniger über die so genannte Neue Welle des tschechoslowakischen Kinos der 1960er Jahre und über das Schicksal von Regisseuren und ihrer Filme während der so genannten „Normalisierung“ nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968.

„Der Feuerwehrball“
Formans Film „Der Feuerwehrball“ war hierzulande nur wenige Wochen vor dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten im August 1968 zu sehen. Kurz danach wurde der für den Oscar nominierte Streifen bis 1989 in den Tresor gesperrt. Dieses Schicksal ereilte aber auch viele andere Spielfilme aus den 1960er Jahren. Trotz internationaler Erfolge passten sie nicht ins Konzept der moskautreuen Machthaber. Diese zogen im Rahmen der so genannten Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch einen Schlussstrich unter die neue Welle im tschechoslowakischen Film. Dies geschah ab Herbst 1969. Viele Filmemacher standen nun vor dem Dilemma: Entweder passen sie sich den neuen Richtlinien der Staatspartei an, oder sie verzichten auf die schöpferische Arbeit hierzulande. Dies führte viele von ihnen in die Emigration.

Štěpán Hulík  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Über dieses traurige Kapitel der tschechischen Filmgeschichte hat der 28-jährige Filmhistoriker Štěpán Hulík ein Buch geschrieben. 2011 ist es im Academia-Verlag erschienen und wurde im Frühjahr dieses Jahres mit dem wichtigsten tschechischen Buchpreis, dem Magnesia litera, in der Kategorie „Entdeckung des Jahres“ bedacht. Radio Prag hat den Filmhistoriker im März dieses Jahres als Autor des Drehbuchs zum Spielfilm „Die brennende Dornhecke“ vorgestellt. Der Dreiteiler über Jan Palach, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die einschleichende „Normalisierung“ selbst verbrannt hat, entsteht derzeit unter der Regie der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland.



„Kino des Vergessens“
Das 500 Seiten umfassende Buch Štěpán Hulíks mit dem Titel „Kinematografie zapomnění“ / „Kino des Vergessens“ entstand allerdings sozusagen auf einem Umweg.

„Es ist mir etwas peinlich einzugestehen, dass ich am Anfang gar nicht an ein Buch gedacht habe. Als Student der Filmwissenschaften an der Prager Karlsuniversität musste ich im vierten Studienjahr meine Diplomarbeit schreiben. Eines der zur Wahl stehenden Themen war auch ‚Die Normalisierung im tschechischen Filmschaffen’. Nach ein paar Monaten habe ich bereits wie besessen an diesem Thema gearbeitet. Beim Recherchieren habe ich mich mit den Lebensgeschichten vieler Filmemacher der 1960er Jahre vertraut gemacht. Ich habe verschiedene Linien verfolgt, aus deren Geflecht sich nach und nach ein Bild jener Zeit ergeben hat. Das hat mir viel Spaß gemacht. Es war sehr spannend, die düstere Zeit von damals zu erkunden.“

Alexander Dubček
Die Zeit der so genannten Normalisierung in der früheren ČSSR wird allgemein als grau bezeichnet. Die Anfänge liegen im April 1969, als der kommunistische Parteichef Alexander Dubček abgewählt und durch Gustáv Husák ersetzt wurde. Der Startschuss zur Normalisierung der Filmproduktion kam nur wenige Monate später: Die Normalisierung bedeutete strengste Zensur wie in anderen Kulturbereichen auch. Zunächst wurden aber so genannte „unzulässige“ Kader in der Führung der staatlichen Prager Filmstudios in Barrandov durch regimetreue ersetzt. Štěpán Hulík:

Ota Hofman
„Meiner Meinung lässt sich die Abberufung leitender Funktionäre des Filmstudios im Herbst 1969 als Startschuss bezeichnen. Allen voran wurde der beliebte Direktor Vlastimil Harnach gefeuert, der sich in den 1960er Jahren ganz besonders um die Entstehung der ‚neuen Welle’ verdient gemacht hat. Harnachs Posten übernahm Jaroslav Šťastný, ein Niemand von irgendwoher aus Nordböhmen. Der Schriftsteller und Drehbuchautor Jan Procházka, einer der bekanntesten Verfechter des politischen Reformkurses auch im Kulturbereich, verließ freiwillig seinen leitenden Posten in der Filmemachergruppe für Kinder- und Jugendfilme. Er wollte damit das Fortbestehen der Gruppe sichern. Seinen Posten übernahm Ota Hofman, der unter anderem die berühmte Filmfigur ‚Pan Tau’ erschuf. Wie mir einige seiner noch lebenden Zeitgenossen erzählt haben, war Hofman ein Segen für die tschechische Kinderfilmproduktion. Er war selbst ein ausgezeichneter Regisseur und darüber hinaus ein charakterstarker Mann.“

„Morgiana“ von Juraj Herz
Besonders interessant ist die Übergangszeit zwischen 1968 und 1973. Denn das Ende der filmerischen Freiheit kam nicht abrupt:

„Noch 1972 wurden in Barrandov Filme gedreht, in denen der künstlerische Einfluss der Neuen Welle zu spüren war. Zum Beispiel im Film ‚..a pozdravuji vlaštovky’ / ‚… und grüße die Schwalben’ von Jaromil Jireš oder in ‚Morgiana’ von Juraj Herz. Erst 1973 entstand kein einziger Film mehr mit Anklängen an die Neue Welle. Von da an wurden nur noch Filme gedreht, die dem Konzept der neuen Barrandov-Leitung entsprachen. Mit dem Jahr 1973 endet meiner Meinung nach der Übergang zur Normalisierung.“

„Kutsche nach Wien“ von Karel Kachyňa
Für sein umfassendes Buch hat Hulík in vielen historischen Quellen gestöbert. Seinen Worten nach lassen sich in den Dokumenten viele Hinweise finden, dass die Kader der Normalisierung die Neue Welle der 60er Jahre mit allen Mitteln zum Auslaufen bringen wollten. Um ihr Ziel zu erreichen, versuchten sie auch, viele Filmschaffende durch wirtschaftlichen Druck auf die neue Linie zu bringen. Štěpán Hulík:

„Im Fall junger Filmemacher wie Jiří Menzel oder Hynek Bočan gab es offenbar diese Absicht. Man wollte junge energiegeladene und bereits erfolgreiche Regisseure um die Dreißig für eine Zeitlang von ihrem Metier fern halten und ihnen später so etwas wie eine ‚helfende Hand’ reichen. Diese Taktik wurde allerdings nicht bei allen angewandt, zum Beispiel blieb Karel Kachyňa davon verschont. Einige seiner Filme waren sogar stark regimekritisch gewesen wie „Noc nevěsty“ (Die Nacht der Braut), „Kočár do Vídně“ (Kutsche nach Wien) und natürlich auch „Ucho“ (Das Ohr). Diesen letztgenannten Streifen bezeichnete der Chefdramaturg der Barrandov-Filmstudios, Ludvík Toman, sogar als einen der ‚größten antisozialistischen Filme der Welt’. Nichtsdestotrotz durfte Kachyňa weiter drehen. In den 1970er Jahren schuf er 15 Spielfilme. Das ist kaum zu fassen!“

Spielfilm „Niemand wird lachen“
Die Regisseure Menzel und Bočan hatten wie andere ihrer Kollegen beträchtliche auch internationale Erfolge. Für den Film „Scharf beobachtete Züge“ gewann Menzel 1966 im Alter von 28 Jahren den Oscar für den besten ausländischen Film. Der gleichaltrige Bočan wurde 1965 wiederum bei den Festivals in Mannheim und in Oberhausen für seinen Spielfilm „Nikdo se nebude smát“ / „Niemand wird lachen“ mit je einem Preis ausgezeichnet. An das bittere Schicksal des „Prager Frühlings ´68“ erinnerte Bočan in seinem Film „Čest a sláva“ (Die Ehre und der Ruhm). Es ist die tragikomische Lebensgeschichte eines einfachen Bauern aus dem Dreißigjährigen Krieg. Für diesen Streifen erhielt er 1968 den Pasinetti-Preis der Filmfestspiele von Venedig.

Laut Hulík wurde sogar eine bizarre Strategie im Umgang mit den kritischen Filmemachern erwogen:

„Einige der Zeitzeugen haben mir sagt, die Genossen hätten 1969 auch über die Möglichkeit nachgedacht, die gesamte Filmproduktion in der Tschechoslowakei für mehrere Jahre zu stoppen. Für die angestrebten ‚normalisierten’ Verhältnisse sollten inzwischen neue Filmemacher ausgebildet beziehungsweise die anpassungsfähigen umerzogen werden. Letztlich hat man sich für eine andere Variante entschieden.“

Anpassungsfähige Regisseure gab es genug, aber auch solche, die jegliche Kompromisse ablehnten und lieber in die Emigration gingen wie Miloš Forman, Vojtěch Jasný oder Jan Passer. Einige Filmemacher hatten indes keine Wahl. Für ihre künstlerisch wertvollen, jedoch regimekritischen Werke aus den 60ern sowie für ihr Engagement im Filmemacherverband wurden sie kurzerhand mit einem Berufsverbot bestraft. Dazu gehörten Ladislav Helge, Pavel Juráček und Jan Procházka. Einer der Wendehälse war hingegen der renommierte Regisseur Karel Steklý. 1946 wurde sein Film „Siréna“ als einziger in der Geschichte der tschechoslowakischen Kinematografie mit der höchsten Auszeichnung des Filmfestivals von Venedig, mit dem „Goldlöwen“ gekürt. Der Grund für seine Kehrtwende dürfte sehr simpel gewesen sein, sagt Hulík:

„Siréna“ von Karel Steklý
„Steklý hat in den 1960er Jahren nur einen einzigen abendfüllenden Film gedreht. Mit dem Drive der erwähnten jungen und hoch talentierten Filmemacher konnte er nicht mithalten. Seine früheren Streifen gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Als aber die jungen Männer und Frauen der Filmbranche vom Regime ins Abseits gestellt wurden, sah Steklý offensichtlich seine Chance. Er drehte zum Beispiel auch kritische Filme über den Prager Frühling 1968. Das war damals der einfachste Weg für den Wiedereinstieg.“"Kino des Vergessens" - die Normalisierung des tschechoslowakischen Films nach 1968

Štěpán Hulík hat nicht nur in Archiven recherchiert, sondern auch mit Zeitzeugen gesprochen. Einige der Gespräche hat er in seinem Buch niedergeschrieben. Darunter auch das Gespräch mit dem ranghöchsten Normalisierungskader der Filmbranche, Jiří Purš, der 20 Jahre lang Generaldirektor des Staatsunternehmens „Československý film“ (Tschechoslowakischer Film) war. In der Hierarchie der leitenden Funktionäre des tschechoslowakischen Films kam es laut Hulík jedoch viel mehr auf die Seilschaften als auf den offiziellen Rang der jeweiligen Person an.

Ludvík Toman
In dieser Hinsicht scheint der bereits erwähnte Ludvík Toman, Chefdramaturg des Barrandov-Filmstudios, am besten dran gewesen zu sein. Toman war in den 1950er Jahren Korrespondent der tschechischen Zeitschrift „Svět socialismu“ (Die Welt des Sozialismus) in Moskau. Dort soll er bei gemeinsamen Ausflügen in Moskauer Kneipen freundschaftliche Beziehungen zum späteren sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew geknüpft haben. Nicht Jiří Purš, der (in Anführungsstrichen) „nur“ Kontakte zum Kulturattaché der sowjetischen Botschaft in Prag pflegte, noch der Direktor des Barrandov-Filmstudios, Miloslav Fábera, sondern Ludvík Toman war der wahre Herrscher. Er entschied, ob ein Film entstand oder nicht. Das zog sich von der Billigung des Drehbuchs über die Rollenbesetzung bis zum Absegnen der Endversion. Štěpán Hulík:

„Toman war 1969 bis 1982 im Filmstudio Barrandov tätig. Er behauptete von sich, ein eiserner Besen zu sein, der die Barrandov-Studios säubere. Die politischen Normalisatoren erwarteten übrigens von Toman, dass er die dramaturgischen Pläne mit fester Hand beaufsichtigte, um keine Wiederholung der 1960er Jahre zuzulassen. Während Tomans Amtszeit gab es allerdings viele Versuche, ihn los zu werden, doch jedes Mal ohne Erfolg. Als Breschnew 1982 starb, wurde kurz danach aber Toman abberufen.“

Erst 1989 konnte sich der tschechoslowakische Film wieder von seinen Fesseln befreien.