Landschaft im Wandel: das verschwundene Moldau-Tal
Die sogenannte Moldau-Kaskade ist ein System von neun Stauanlagen entlang der Moldau. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich zur Stromerzeugung gebaut. Das Moldau-Tal und seine Landschaft wurden dadurch wesentlich verwandelt.
Die Kraftwerke der Moldau-Kaskade sind eine der wichtigsten Quellen für grünen Strom in Tschechien. Das System dient zudem dazu, Prag vor Hochwasser zu schützen. Und für die meisten Tschechen sind die Talsperren Orlík, Slapy oder Lipno Orte des Urlaubs und Erholung. Der Hydrotechniker Martin Horský von der Technischen Universität in Prag blickt in die Vergangenheit zurück:
„Erste Überlegungen zum Bau der Moldau-Kaskade gehen auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, als die Energiewirtschaft und die Stromproduktion einen Aufschwung erlebten. Es wurde geplant, Wasserwerke an der Moldau zu errichten. Gleichzeitig wurde eine Idee wiederbelebt, die eigentlich schon seit Karl IV. existierte – nämlich die Moldau schiffbar zu machen beziehungsweise durch einen Kanal mit der Donau zu verbinden.“
Schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden die ersten Wasserbauten, kleinere Wehre und Kraftwerke errichtet. An diese knüpfte später die sogenannte Moldau-Kaskade an. Jiří Cajthaml arbeitet am Institut für Geomatik der Technischen Universität in Prag:
„Der Bau einer Talsperre ist immer ein gesellschaftlich umstrittenes Thema. Er hat Vorteile und Nachteile. Die Befürworter argumentieren, dass die Stauanlagen Strom liefern, kleinere Flutwellen auffangen können und die Stauseen zur Erholung dienen. Das sind die Vorteile. Es gibt aber natürlich auch Nachteile – es werden Gebiete überflutet und die dortigen Bewohner umgesiedelt.“
Bau der Moldau-Kaskade
Cajthaml hat mit seinem Team gerade ein umfangreiches Forschungsprojekt abgeschlossen: Wissenschaftler der Technischen Universität sowie der Prager Karlsuniversität haben ein umfassendes Informationssystem über die Moldau erstellt, das die Veränderungen des Flusses von der Quelle bis zur Mündung der Berounka südlich von Prag beschreibt. Sie wollten herausfinden, welchen Wandel der Fluss und die angrenzende Landschaft durch den Bau der Moldau-Kaskade durchgemacht haben.
„Die Moldau an sich bietet einen sehr breiten Bereich an Themen. Sie ist ein Nationalsymbol sowie der längste und wahrscheinlich auch bekannteste Fluss hierzulande. Das zentrale Thema unseres Projekts war die historische Moldau-Landschaft, das heißt das natürliche dortige Landschaftsbild über die Jahrhunderte, das durch den Bau der Moldau-Kaskade wesentlich verändert wurde.“
„Die Moldau – historische Landschaft im Wandel“ heißt die entsprechende Ausstellung, die zurzeit an der Technischen Universität in Prag zu sehen ist. Sie zeigt alte Karten, Pläne, Videos, aber auch das historische Moldau-Tal in Virtual Reality sowie alte Ansichtskarten und Fotos. Jiří Cajthaml:
„Wir haben dokumentiert, wie die Gegend entlang der Moldau ausgesehen hat, und zwar anhand von alten Landkarten und historischen Ansichtskarten. Auf dieser Grundlage haben wir weitere zusammenhängende Phänomene erforscht und beschrieben, zum Beispiel den Wandel in der Besiedlung, aber auch etwa das Verkehrssystem, da die Moldau früher eine wichtige Verkehrsader war. Im Zusammenhang mit der Moldau lässt sich auch über die Flößerei sprechen, weil auf der Moldau Holz aus dem Böhmerwald befördert wurde. Ein weiteres Thema ist das Hochwasser. Es ist deswegen von großer Bedeutung, weil Prag durch die Kaskade vor diesem geschützt wird. Außerdem lohnt es sich, über die hydroenergetischen Bauten zu sprechen. Das sind nicht nur die Talsperren, sondern auch ältere Wehre, die heute überflutet sind. Interessant für uns war zudem das Gebiet, das überflutet wurde.“
Unter der Wasseroberfläche
Als Datengrundlage dienten den Forschern mehr als 2000 Kartenblätter, zumeist aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie mussten digitalisiert und georeferenziert, das heißt räumlich korrekt eingeordnet und zu einem Mosaik zusammengefügt werden. Anhand der digitalen Karten wurde ein 3D-Bild der früheren Landschaft erstellt, einschließlich wichtiger Objekte wie Burgen, Schlösser und Kirchen. Das Modell ist interaktiv – wenn man einen konkreten Ort anklickt, erhält man nicht nur ein Bild, sondern auch zusätzliche Informationen dazu. Wie haben die Dörfer ausgesehen, die unter dem Wasser verschwunden sind? Was ist mit den Gemeinden geschehen? Wohin wurden die Einwohner umgesiedelt? Wurden einige Denkmäler gerettet? Auf all diese Fragen erhält man eine Antwort. Eine entsprechende App soll bis Ende dieses Jahres vollständig zur Verfügung stehen. Die erwähnte Ausstellung bietet eine Kostprobe. Sie umfasst beinahe 60 große Tafeln mit vielen Informationen. Interessant sind auch drei Landschaftsmodelle. Jiří Cajthaml:
„Es sind drei große Modelle, die die Gebiete der drei größten Talsperren zeigen – Lipno, Orlík und Slapy. Sie rekonstruieren das Aussehen der Gegend um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine durchsichtige hellblaue Schicht Plexiglas steht für die heutige Wasserfläche und das überflutete Gebiet.“
Die Kuratoren zeigen auch das Modell eines Floßes. Es stammt aus dem Nachlass von Václav Husa, einem der letzten Flößer auf der Moldau. Zudem wird ein dreidimensionales Modell des geplanten Slapy-Staudammes aus der Zwischenkriegszeit gezeigt. Das Projekt wurde nicht umgesetzt. Die Slapy-Stauanlage entstand erst in den 1950er Jahren an einem anderen Ort.
Interaktive Landkarte – alte Fotos – Virtual Reality
Die Wissenschaftler hätten bei ihrer Arbeit durch einen Zufall Hilfe erhalten, erzählt Cajthaml:
„Im Winter 2019 wurde der Wasserpegel im Stausee Orlík wegen des Baus eines neuen Schiffshebewerks um etwa zehn Meter gesenkt. Das war für uns von großer Bedeutung und ermöglichte uns, unter die Wasseroberfläche zu schauen. Aus den Fluten tauchten plötzlich Überreste von Gebäuden auf, die früher den Fluss säumten. Wir haben alles fotografiert und ein Mosaik erstellt, das die genaue Lage einzelner Gebäude zeigt. Diese haben wir mit den Eintragungen auf den alten Karten verglichen und eventuelle Ungenauigkeiten korrigiert. Das hat uns sehr geholfen. Leider ist so etwas bei anderen Talsperren nicht möglich.“
Anders als die Talsperren Orlík und Slapy im zentralen und dicht bebauten Teil des Landes, ist die Talsperre Lipno vor allem von Natur umgeben. Deswegen wurde dort auch nicht nach Gebäuden und Gemeinden entlang des ursprünglichen Stroms gesucht:
„Wir haben stattdessen die früher populäre Flussschleife dokumentiert, die als Herz der Moldau bezeichnet wurde. Dank Sonar-Messungen haben wir sie auf dem Seegrund genau orten können. Der jetzige Stand entspricht exakt den alten Karten, denn die Bodenerosion dort ist nicht so stark wie in Mittelböhmen, wo es Felder und Wiesen gibt.“
Soweit der Blick in die Geschichte. Die ältesten und kleineren Stauanlagen, Vraný und Štěchovice, wurden noch in der Zwischenkriegszeit gebaut. Ab den 1950er Jahren folgten die größten Wasserbauten Lipno, Orlík und Slapy. Die letzte Talsperre, Hněvkovice, wurde Anfang der 1990er Jahre fertiggestellt. Trotz ihres hohen Alters seien die Staudämme auch heute noch sicher, bekräftigt der Hydrotechnik-Experte Martin Horský:
„Die Wasserwerke werden regelmäßig gepflegt und stehen unter sicherheitstechnischer Aufsicht. Es sind keine Neubauten, aber immer noch funktionsfähig. Am Orlík-Stausee begann zum Beispiel vergangenes Jahr der Bau eines neuen Sicherheitsüberlaufs, der das Wasserwerk vor den Folgen extremer Durchflussmengen bei Hochwasser schützen soll. Die Sicherheitsstandards sind heute viel strenger als früher und rechnen mit einem 10.000-Jahre-Durchfluss. Sie müssen auch solche Extremsituation bestehen können, damit es nicht etwa zu einem Dammbruch kommt.“
Die Ausstellung „Die Moldau – historische Landschaft im Wandel“ ist im Atrium der Fakultät für Bauwesen der Technischen Universität im Prager Stadtteil Dejvice zu sehen. Sie findet bis 7. April statt. Der Eintritt ist frei.