Letzter Zufluchtsort für jüdische Kinder: Jáchymka-Schule in Josefov

Foto: Martina Schneibergová

Während der Nazi-Okkupation war sie für eine gewisse Zeit lang die einzige Schule, die die jüdischen Kinder im Protektorat noch besuchen konnten: die sogenannte „Jáchymka“ in Prag. So haben sie die Schülerinnen und Schüler einst kurz genannt. Die Schule hat jedoch eine längere Geschichte. Diese ist Thema einer Dauerausstellung, die vor kurzem im ehemaligen Schulgebäudeeröffnet wurde.

Jáchymova Nr. 3  (Foto: Google Street View)
Es ist eine kurze Gasse im Prager Stadtteil Josefov / Josefstadt: Die Jáchymova verbindet die Maiselova mit der Prunkstraße Pařížská. Ursprünglich hieß die Gasse Joachimova, benannt wurde sie nach einem Prager Bürger. In der Jáchymova Nr. 3 war früher eine jüdische Schule untergebracht. Heute hat unter anderem das Institut der Theresienstädter Initiative in dem Gebäude seinen Sitz. Tereza Štěpková leitet das Institut, das vor kurzem eine Ausstellung im Foyer des Gebäudes eröffnet hat.

„Die Schule war zwei Jahre lang die einzige Schule, die jüdische Kinder noch besuchen konnten. Viele von ihnen sind Holocaust-Opfer geworden. Einmal sagte Toman Brod bei einem Besuch in unserer Bibliothek, hier sei sein Klassenzimmer gewesen. Diese Erinnerungen bewegten uns dazu, die sogenannte ´Jáchymka´ wieder zu beleben und eine Dauerausstellung hier zu installieren.“

Toman Brod hat als einer der ehemaligen Schüler die Ausstellung eröffnet. Er erklärte, wie es dazu kam, dass er die Jáchymka-Schule besuchte.

Toman Brod  (Foto: Martina Schneibergová)
„Ich bin 1929 in Prag geboren, wir wohnten damals am Palacký-Kai (heute Rašín-Kai). Meine erste Schule war in der Pštrossova, danach besuchte ich noch andere Schulen. Dann kam das Jahr 1940 und wir durften nicht mehr zur Schule gehen. Die jüdische Gemeinde organisierte damals in den Familien Unterricht für die Kinder. Im Frühjahr 1942 kam ich in diese Schule – in die vierte Klasse der Hauptschule, wie es damals hieß. Es war kurz nach dem Attentat auf Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Ich erinnere mich daran, wie damals immer im Radio gemeldet wurde, wer in der Folge hingerichtet wurde. In den Zeitungen wurden auch lange Verzeichnisse der Hingerichteten abgedruckt. Aber ich muss zugeben, dass wir Kinder nicht ahnten, dass die Situation in einer Katastrophe enden wird. Wir nutzten die Möglichkeiten, die wir noch hatten, um wie Kinder zu leben. Natürlich war das keine normale Situation mehr, wir mussten den gelben Stern tragen, durften nicht mehr ins Kino oder abends auf die Straße gehen. Wir waren eher Wesen der zweiten Kategorie als Kinder. Wir haben aber alle gehofft, dass das Leben erst noch auf uns wartet.“

Foto: Martina Schneibergová
Toman Brod besuchte die Schule nur eine kurze Zeit. Im Juli 1942 wurde er mit seinem Bruder und seiner Mutter nach Theresienstadt transportiert und im Dezember 1943 ins KZ Auschwitz. Seine Mutter und sein Bruder überlebten nicht. Die Schule in der Jáchymova wurde im Sommer 1942 geschlossen.

Rund 260 Gebäude des früheren jüdischen Ghettos in Prag wurden am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhunderts abgerissen. Kaiser Franz Josef unterzeichnete dafür 1893 das sogenannte Assanierungsgesetz. Danach begann die Sanierung des jüdischen Viertels, die 20 Jahre lang dauerte. Die jüdische Religionsgemeinde beauftragte den damals renommierten Architekt Matěj Blecha mit dem Bau eines Schulgebäudes in der Jáchymova Nr. 3. Der Bau sei 1908 beendet worden, sagt Tereza Štěpková.

Tereza Štěpková  (Foto: Martina Schneibergová)
„Im Gebäude wurde damals ein Wintergebetsraum der Maisel-Synagoge eingerichtet, mit der das Haus direkt verbunden ist. Zudem war hier die jüdische Talmud-Tora-Schule untergebracht. Mit der Gründung der Tschechoslowakei wurde die Verfassung verabschiedet, in der das Recht der sprachlichen Minderheiten auf eigene Schulen verankert war. Der zionistische Teil der jüdischen Bevölkerung in Prag bemühte sich daraufhin, eine eigene Schule errichten, im September 1920 wurde sie eröffnet. Der Unterricht verlief jedoch nicht auf Hebräisch oder Jiddisch, sondern auf Tschechisch unter Einbeziehung der deutschen Sprache. Aber die Hauptsprache war Tschechisch. Darum bekam die Schule keine finanzielle Unterstützung vom Staat, sondern wurde von ihrem Träger finanziert. Die Träger waren zuerst der Verein ´Židovská matice školská´ (Jüdischer Schulverein) und später die jüdische Gemeinde.“



Foto: Martina Schneibergová
Die Schule wurde nicht als staatliche Institution akzeptiert. Im Gesetz über Minderheitenschulen war vorgesehen, den Unterricht nur dann zu fördern, wenn er auch in der Sprache der Minderheit abgehalten wurde. Dieses Kriterium erfüllten die Juden nicht. Zwar bekannten sie sich zur jüdischen Nationalität, doch ihre Alltagssprachen waren tschechisch oder deutsch – und nicht Hebräisch. In der neuen Dauerausstellung in der „Jáchymka“ werden die Streitigkeiten zwischen den Zionisten und den sogenannten „Assimilanten“ dokumentiert. Die Befürworter der Assimilierung waren gegen eine eigene jüdische Schule. Sie sahen darin die Gefahr, dass eine solche Schule die jüdischen Kinder aus der tschechoslowakischen Gesellschaft ausgrenzen würde. Zudem befürchteten sie, dass die Schule zum Ziel von antisemitischen Angriffen werden konnte. In Böhmen war die Jáchymka-Schule die einzige jüdische Schule. In Mähren gab es zudem Gymnasien in Brno / Brünn und in Ostrava / Ostrau, erzählt Tereza Štěpková:

„Als die Schule eröffnet wurde, gab es nur eine Klasse mit 18 Schülerinnen und Schülern. An der Eröffnung nahm unter anderem der Schriftsteller Max Brod teil. Nach neun Jahren besuchten schon rund 100 Kinder die Schule. In den 1930er Jahren wurden zwei Zweigstellen der Jáchymka-Schule errichtet: eine im Stadtteil Holešovice und eine in Letná. Der Grund war nicht etwa, dass die Kapazität erschöpft gewesen wäre. Die Schule wollte den Eltern und Schülern entgegenkommen, die anderswo wohnten. Außer der Schule hatten in der Jáchymova einige weitere Organisationen des Jüdischen Schulvereins ihren Sitz. Es befand sich hier beispielsweise eine Berufsberatungsstelle und eine psychologische Beratungsstelle.“

Seit der Mitte der 1930er Jahre spielte die Jáchymka-Schule eine besonders wichtige Rolle. Die Besuchszahlen stiegen, denn die Schule nahm nun auch Flüchtlingskinder aus den Nachbarstaaten und aus dem Sudetengebiet auf. Die Kinder konnten den ganzen Tag in der Jáchymka-Schule bleiben, sie bekamen von der Schule Bekleidung und Verpflegung. Damals besuchten die jüdische Schule schon rund 180 Kinder. Tereza Štěpková:

Foto: Martina Schneibergová
„Aus den Erinnerungen der Lehrerinnen und Lehrer haben wir erfahren, dass die Schule so ausgerichtet war, dass sie sich um arme Kinder kümmern konnte. Nachdem die jüdischen Kinder keine anderen Schulen mehr besuchen durften, nahm die Jáchymka-Schule eine große Zahl neuer Schüler auf. Es wurde hier sogar in zwei Schichten unterrichtet. Auf einem der großen Fotos in der Ausstellung ist eine Schulklasse mit 58 Kindern zu sehen. Die Lehrer wechselten sich während des Tages ab. Auch für viele Lehrerinnen und Lehrer ist die Jáchymka-Schule zu einem Zufluchtsort geworden, nachdem sie anderswo nicht mehr arbeiten durften.“

In der Jáchymka-Schule standen Tschechisch, Mathematik, Deutsch und die übrigen gängigen Fächer auf dem Stundenplan. Ein besonderer Schwerpunkt im Lehrplan lag auf der jüdischen Kultur und Geschichte. In den höheren Klassen wurde Hebräisch als Wahlfach angeboten. Die Schule hatte zudem ein buntes Freizeitprogramm. Es gab beispielswiese ein Puppentheater, es wurden Theatervorstellungen für jüdische Feste einstudiert. Für Tereza Štěpková kann die Jáchymka-Schule auch heute noch als Inspiration dafür dienen, wie man mit der ethnischen Zugehörigkeit von Kindern an Schulen umgehen kann.

Emanuel Moravec  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
In der Jáchymka-Schule wurde bis zum August 1942 unterrichtet. Dann verbot Schulminister Emanuel Moravec jedwede Bildung für jüdische Kinder. Im Schulgebäude wurde später das Eigentum der jüdischen Gemeinden aufbewahrt, das die Nationalsozialisten im Protektorat Böhmen und Mähren beschlagnahmt hatten. Während der kommunistischen Zeit war praktisch das ganze Jüdische Museum in diesem Gebäude untergebracht, erzählt die Expertin:

„Dies zeugt von einer starken antisemitischen Haltung der Kommunisten. Es war nicht erlaubt, Forschung im Bereich Judaismus zu betreiben oder über das Judentum und das Leben der Juden überhaupt zu informieren. Das Jüdische Museum hatte hier bis 2001 seinen Sitz. Seitdem wird das frühere Schulgebäude als Vereinshaus von Institutionen genutzt, die mit der Prager jüdischen Gemeinde zusammenarbeiten.“

Foto: Martina Schneibergová
Bei den Forschungen über die jüdische Schule stellte sich laut Tereza Štěpková heraus, dass viele Mitglieder der Theresienstädter Initiative einst zu den Schülern der Jáchymka zählten.

„In vielen Zeitzeugenberichten wurde erwähnt, dass der und der die Jáchymka besucht hätte. Aber oft ist es schwierig, mehr Informationen darüber zu finden. Das hat zwei Gründe: Diese Menschen waren damals kleine Kinder und behielten andere Dinge im Kopf als die Schule. Und zweitens überlagerte ihr späteres Schicksal manchmal die Erlebnisse aus der Schule. Es sind immer noch mehrere Zeitzeugen am Leben, die die Schule besuchten. Zu ihnen gehören beispielsweise Anna Hyndráková, Bohumila Havránková und Miluška Dohnalová. In Israel lebt Chava Pressburger, die Schwester von Petr Ginz, der auch diese Schule besuchte. Wenn wir mit den ehemaligen Schülern Kontakt aufnahmen, passiert es uns öfter, dass sie antworteten: Ja, ich bin in die Jáchymka-Schule gegangen und erinnere mich an diese oder jene Lehrerin. Aber das ist meistens schon alles. Das ist auch sehr verständlich.“

Foto: Martina Schneibergová
In dem einstigen Schulgebäude sind neben der Ausstellung auch zwei Bibliotheken untergebracht. Die eine gehört der Prager Jüdischen Gemeinde, die andere dem Institut der Theresienstädter Initiative.

Die Ausstellung über die Geschichte der jüdischen Schule ist von Montag bis Freitag, und zwar von 9 bis 16 Uhr zu besichtigen.