„Lösung der Probleme verlangt einen Spagat“ – zur Lage der Roma in Tschechien
Wieder einmal wird in Tschechien über die schlechte Lebenssituation der Roma diskutiert. Konkreter Anlass ist die geplante Räumung einer Ghetto-Siedlung im mährisch-schlesischen Ostrava /Ostrau, nahe des dortigen Hauptbahnhofs. Die örtliche Baubehörde hat vergangene Woche wegen gravierenden Mängeln in der Bausubstanz die Räumung von neun Häusern der Siedlung angeordnet – eine Entscheidung, der sich rund Hundert Roma widersetzen. Obwohl in der Siedlung schon eine Woche zuvor das Wasser abgestellt wurde und die hygienischen Zustände katastrophal sind, ziehen viele der Betroffenen das Leben in der Siedlung dem in einer Notunterkunft für Sozialschwache vor. Wohl aus purer Verzweiflung unternahmen die Roma in Ostrau vereinzelt sogar Versuche, einige der festgestellten Mängel zu beseitigen. Doch die Behörde dürfte ihre Entscheidung wohl kaum zurücknehmen. Über die Lage der Roma nicht nur in Ostrau ein Gespräch mit unserem Mitarbeiter, dem Politikwissenschaftler Robert Schuster.
„Die Lage in Ostrau ist tatsächlich sehr angespannt, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu tätlichen Übergriffen kommt. Dennoch glaube ich, dass es einen Unterschied zwischen der Lage der Roma in Ostrau und in Schluckenau gibt. Denn in Ostrau wurde dereinst mit System vorgegangen: Die Kommunisten versuchten die Roma zu sozialisieren, indem sie sie vor allem in große Industriegebiete wie Nordmähren, Ostrau, Nordböhmen oder Most regelrecht ansiedelten. Dort wurden Plattenbausiedlungen errichtet in der Hoffnung, dass die Roma dort Wohnungen finden, aber auch Arbeit. Denn Beschäftigung gab es damals in der dortigen Schwer- und Montanindustrie reichlich. Der Plan misslang zwar letztlich, aber hatte zur Folge, dass die Roma in dieser Zeit von der so genannten Mehrheitsbevölkerung akzeptiert wurden. Man wusste über Jahrzehnte, dass es in einem Stadtteil von Most eine Roma-Siedlung gibt, ebenso in anderen Orten wie Kladno oder Ostrau. Die Roma wurden dort mehr oder weniger über Jahrzehnte lang akzeptiert, auch wenn sie nicht geliebt wurden. Es hieß: ‚Das ist ihr Wohngebiet.’ Anders ist die Lage in Schluckenau, dort wurden die Roma von Geschäftsleuten angesiedelt. Zuvor waren den Roma unter Versprechungen ihre Wohnungen abgekauft worden, sie wurden dann in einer Gegend, die nicht auf ein Zusammenleben abgestimmt war, in Notunterkünften untergebracht. Dort kam es dann zu Eskalationen. Es besteht in Schluckenau also ein Unterschied zu den Roma-Ghettos in Ostrau und den anderen großen Industriegebieten.“
Kann man sagen, dass die schlechte Lage der Roma in Nordmähren oder Most damit zusammenhängt, dass allgemein die Arbeitslosigkeit hoch ist und gerade die Roma dort betroffen sind?„Sicherlich ist die Arbeitslosigkeit dort sehr hoch, aber es sind ja nicht nur die Roma betroffen, sondern auch die Nicht-Roma. In dieser Weise existiert vielleicht eher das Gefühl, dass man im gleichen Boot sitzt - also keine Arbeit und eine geringe Zukunftsperspektive hat. Fakt ist aber: Von der Gettoisierung sind fast ausschließlich Roma betroffen. Wenn man in Tschechien von ‚sozial ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen’ spricht, dann sind fast immer sie gemeint, das Wort wird also als Synonym gebraucht. Sozialschwache aus der Nicht-Roma-Bevölkerung werden eigentlich nicht dazugezählt und tauchen nicht in den betreffenden Statistiken auf. Diese Gettoisierung ist also ein Thema, das fast ausschließlich die Roma betrifft.“
Nach den Ereignissen in Schluckenau hat die tschechische Regierung versprochen, Strategien für eine bessere Integration der Roma zu entwickeln. Wurde das Versprechen eingehalten?
„Ja und Nein, es gibt keine eindeutige Antwort. Die Regierung hat Präsenz gezeigt und sofort den wichtigsten Minister in die Region geschickt, um sich vor Ort mit der Lage vertraut zu machen. Es ist aber fraglich, ob sich von Prag aus eine einheitliche Strategie entwickeln lässt, die man dann für alle problematischen Siedlungen anwenden kann. Die Situation in den einzelnen Ballungszentren, in denen die Roma leben, ist sehr unterschiedlich. Es gibt Unterschiede zwischen Ostrau, Schluckenau und anderen Teilen Böhmens und Mährens. Man kann dort mit einer einheitlichen Strategie nur sehr schwer punkten. Man muss vor Ort diejenigen unterstützen, die sich seit vielen Jahren im Rahmen von Nichtregierungsorganisationen mit der Lage befassen, auf sie sollte man hören. Allerdings müssen diese Strategien einen gewissen Spagat bewältigen. Die Mehrheitsbevölkerung hat immer das Gefühl, dass den Roma das Geld hinterhergeworfen wird und sie dafür nichts machen müssen. Die Roma hingegen empfinden die Maßnahmen als zu wenig. Eine Strategie müsste also den Spagat schaffen, dass alle irgendwie mit ihr einverstanden sind.“