„Man weiß nie, wann man das entscheidende Bild schießt“ – Prager Galerie zeigt Dokumentarfotografie

Ausstellung „Lost Europe“

In einer unscheinbaren Trafostation im Prager Stadtteil Smíchov haben vor mehreren Jahren einige bekannte tschechische Fotografen eine Galerie eingerichtet. 400 ASA heißt sie, und genauso wie der gleichnamige Verein soll sie dazu beitragen, die Arbeiten von Dokumentarfotografen sichtbar zu machen.

400 ASA, das ist eine Bezeichnung für die Empfindlichkeit von Filmen. Und es ist der Name eines Prager Vereins von Fotografen. Karel Cudlín ist eines der Mitglieder. Er sagt:

„Der Verein ist vor etwa sechs Jahren entstanden. Gegründet hat er sich auf die Initiative von Jan Dobrovský hin. Er hatte schon länger die Idee, dass sich ja eine Gruppe von Dokumentarfotografen zusammentun könnte. Dann führte eines zum anderen, wir haben alle mehrmals bei Ausstellungen über das Projekt gesprochen. Und so entstand der Verein 400 ASA.“

Martin Wágner,  Marie Kordovská und Karel Cudlín | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Karel Cudlín ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Fotografen Tschechiens. Um die Jahrtausendwende herum war er einer der offiziellen Fotografen von Staatspräsident Václav Havel. Auch die Namen der anderen Vereinsmitglieder lesen sich teils wie das Who is who der hiesigen Szene. So gehören dem Künstlerkollektiv neben Karel Cudlín und Jan Dobrovský auch Alžběta Jungrová, Antonín Kratochvíl, Jan Mihaliček und Tomki Němec an – ebenso wie Martin Wágner.

„Wir interessieren uns alle für klassische, schwarz-weiße Dokumentarfotografie“, sagt Wágner. Aber was genau ist das eigentlich, Dokumentarfotografie?

„Das ist eine Art von Fotografie, die einfach aus dem Leben hervorgeht. Es geht nicht darum, die Realität zu inszenieren, vielmehr soll sie vor dem Hintergrund verschiedener Kontexte und Zusammenhänge so festgehalten werden, wie sie ist“, sagt Cudlín. Die Herangehensweise sei dabei eine andere, als bei der Reportagefotografie:

Aus dem Zyklus „Lost Europe“ | Foto: Jan Dobrovský,  Galerie 400 ASA

„Die Reportage nimmt ein aktuelles Ereignis in den Blick, da geht es um News und Berichterstattung. Dokumentarfotografie hingegen geht eben in die Tiefe, im Zentrum steht der Kontext des Dargestellten, und zumeist fotografiert man über längere Zeit.“

Diese Art von Fotografie wollte der Verein 400 ASA von Anfang an unterstützen und auf sie aufmerksam machen. Dazu gehörte auch das Veranstalten von Ausstellungen. Für die hat das Kollektiv ein eigenes Zuhause gefunden: Eine ehemalige Trafostation im Prager Stadtteil Smíchov, die sich an einem unscheinbaren und häufig übersehenen Platz befindet. Architektonisch ist der Bau vor allem durch seine rondokubistischen Elemente interessant. Marie Kordovská ist die Kuratorin der kleinen Kultureinrichtung. Sie sagt:

„Diese Umspannstation war früher am Verfallen. Jan Dobrovský ließ sie sanieren. Da es sich um einen sehr kleinen Raum handelte, bot es sich an, hier eine Galerie einzurichten.“

Laut Karel Cudlín ist man bei der Auswahl der präsentierten Künstler um möglichst große Vielfalt bemüht:

„Es sollen nicht nur Arbeiten unserer Vereinsmitglieder gezeigt werden. Wir wollen ein möglichst breites Spektrum der Dokumentarfotografie abbilden, was etwa die Arbeitsweisen sowie Alter und Geschlecht der Fotografen betrifft.“

Wer die Heimstätte des Vereins besucht, kann aber nicht nur Fotografien erleben. Im Untergeschoss bietet sich im hauseigenen Café auch die Möglichkeit, ein Heißgetränk der Wahl zu genießen. Zudem werden dort die vom Verein herausgegebenen Publikationen verkauft.

Aus dem Zyklus „Lost Europe“ | Foto: Karel Cudlín,  Galerie 400 ASA

Negative aus der Mülltonne

Derzeit ist in der Galerie 400 ASA eine Ausstellung von Martin Wágner zu sehen. „Paměť světla“ heißt die Schau, oder „Memories of Light“ auf Englisch. Das Besondere: Wágner hat die gezeigten Bilder gar nicht selbst fotografiert…

„Seit über 20 Jahren sammle ich entwickelte Negative, die ihre Besitzer verloren haben. Den Impuls gab ein Freund von mir. Er ernährte sich ausschließlich von Essen aus Mülltonnen. Wenn er in die Prager Container schaute, entdeckte er immer mal wieder auch kleine Schachteln mit Diapositiven oder einen Umschlag mit zusammengerollten schwarz-weißen oder auch farbigen Negativen. Er wusste, dass ich mich für Fotografie interessiere, also brachte er seine Fundstücke zu mir.“

Beim Betrachten der Fotografien stellte Wágner fest, dass die Bilder eine besondere Aussagekraft haben und oft spezielle Momente zeigen.

Ausstellung „Memories of Light“ | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

„Ich begann dann selbst auf Flohmärkten und im Internet nach Negativen zu suchen, und auch meine Freunde brachten immer wieder welche an. Im Laufe von 20 Jahren wurde mein Archiv dann immer größer.“

Während der Corona-Pandemie begann Martin Wágner, die gesammelten Bilder online zu veröffentlichen. „Negativy z Popelnice“, also „Negative aus der Mülltonne“, nannte er seine Facebook-Gruppe, die mittlerweile fast 15.000 Mitglieder hat.

„Die Menschen konnten damals sehr gut Momente einfangen, obwohl sie meist keine professionellen Fotografen waren. Oft sind sehr intime Situationen abgebildet. Solche Aufnahmen suche ich, schreibe einen Text dazu und veröffentliche sie dann im Internet.“

Wágner sagt im Interview, er sei sich bewusst, dass sein Projekt die Frage hervorrufe, ob man die fremden Fotos einfach so teilen dürfe. Er wähle von daher nur solche Motive aus, die die abgebildeten Personen nicht in ein schlechtes Licht rücken würden. Zudem seien die Reaktionen zumeist positiv, wirft der Künstler ein. Schon öfter sei es vorgekommen, dass sich die Menschen auf den Aufnahmen zu Wort meldeten:

„Einmal habe ich eine Fotografie veröffentlich, auf der eine Frau mit einem Kinderwagen und einem ungefähr einjährigen Kind zu sehen ist. Jemand in der Gruppe hat das Dorf erkannt und das Foto in einer entsprechenden Facebook-Gruppe geteilt. Und auf einmal hatte ich einen Kommentar unter dem Bild, in dem eine ältere Frau schrieb: ‚Das bin ich mit meiner Mutter. Im Hintergrund ist unser Hund zu sehen. Das Bild wurde in unserer Straße aufgenommen.‘“

Aus dem Zyklus „Lost Europe“ | Foto: Martin Wágner,  Galerie 400 ASA

Aufnahmen spiegeln Geschichte Tschechiens wider

Für die aktuelle Ausstellung in der Galerie 400 ASA hat Wágner aber eine andere Herangehensweise gewählt als für sein Online-Projekt. Statt Bilder aus dem Mülleimer zu zeigen, forderte er gemeinsam mit Kuratorin Kordovská die Öffentlichkeit dazu auf, alte Negative aus Privatarchiven einzureichen. Eine Woche lang konnten Interessierte Bildmaterial vorbeibringen und dieses unter Anleitung selbst digitalisieren. Wágner habe nicht nur das große Interesse überrascht, schildert er:

„Ich habe auch überhaupt nicht damit gerechnet, dass sich auf unseren Aufruf hin Leute melden, deren Vater etwa Fotograf war und die dessen verbliebene Negative einfach nur nicht digitalisieren konnten. Meine Angst war am Anfang, dass ausschließlich Menschen kommen, die Amateurschnappschüsse von Babys, Hochzeiten und dem Urlaub in Kroatien anbringen. Aber dann ist genau das Gegenteil passiert.“

Ausstellung „Memories of Light“ | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

Aus den digitalisierten Negativen wurden schließlich jene Bilder ausgewählt, die derzeit in der Galerie zu sehen sind. Sie würden die wichtigsten historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts widerspiegeln, sagt Wágner:

„Da ist der Erste Weltkrieg, die Beisetzungen des ersten und des zweiten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, das Ende des Zweiten Weltkriegs oder das Schicksalsjahr 1968. Hinzu kommen persönliche Aufnahmen, die die Atmosphäre der jeweiligen Zeit zeigen. Auch diese Bilder wollten wir in der Ausstellung präsentieren.“

Eindrückliche Bilder vom Landleben in der Ukraine

Projekte der Fotografen von 400 ASA sind aktuell nicht nur in Prag zu sehen, sondern auch in Washington, D.C. Im dortigen Katzen Arts Center stellt neben Martin Wágner und Karel Cudlín auch Jan Dobrovský aus. Zu sehen sind Bilder aus der Ukraine unter dem Motto „Lost Europe“. Cudlín erläutert seine persönliche Beziehung zu dem Projekt:

Ausstellung „Memories of Light“ | Foto: Ferdinand Hauser,  Radio Prague International

„In meinem Leben war die Ukraine immer sehr wichtig. Ich bin dort seit 1991 zum Fotografieren hingefahren. Später haben wir das Land auch drei- oder viermal zu dritt besucht. Die Bilder von diesen Aufenthalten finden sich auch in der Ausstellung. Martin war zudem mehrfach im Osten der Ukraine und hat dort viel Zeit verbracht.“

Die Bilder von den Reisen sind nun in Washington zu sehen, über 300 Aufnahmen zählt die Schau insgesamt. Die Fotografien decken einen Zeitraum von fast 30 Jahren ab, und allesamt sind sie vor dem russischen Angriffskrieg entstanden. Wenngleich auch der Majdan in Kiew oder Eindrücke aus der Hafenstadt Odessa Eingang in die Auswahl gefunden haben, lag der Fokus der Fotografen eigentlich anderswo – nämlich auf kleineren Dörfern und Orten…

„Wir wollten eine Form von Leben einfangen, die verschwindet. Denn in der Peripherie bleiben oft nur noch alte Menschen zurück, die nicht mehr lange unter uns sein werden. Die Atmosphäre dieser Orte wollten wir dokumentieren“, sagt Martin Wágner.

Aspekte, die verschwinden, habe es in der Ukraine auf dem Land zahlreiche gegeben, meint Cudlín:

„In den Fotos wollten wir einen Querschnitt dessen zeigen, was in Europa verlorengegangen ist, über viele Jahre hinweg aber sehr wichtig war: das Verhältnis zur Natur, der Umgang mit Tieren, in gewisser Hinsicht auch Armut, aber zugleich Menschlichkeit und religiöse Traditionen. Zudem ist die Ukraine ein postkommunistischer und postsowjetischer Staat, und auch dieser Aspekt spielte natürlich in unser Projekt hinein.“

Aus dem Zyklus „Lost Europe“  | Foto: Martin Wágner,  Galerie 400 ASA

Einblicke ins Privatleben der Menschen

Laut Wágner haben die drei Fotografen in der Ukraine viel Zeit an den jeweiligen Orten verbracht:

„In der Dokumentarfotografie geht es viel um Geduld, um die Suche nach dem Motiv und das Herumlaufen. Wir haben uns also die Orte herausgesucht, sind dorthin gefahren und sind dann für eine längere Zeit dort geblieben. Als Fotograf weiß man nie, in welchem Moment man das entscheidende Bild schießen kann.“

Ihnen sei dabei zugutegekommen, dass sich in der Ukraine ein großer Teil des Landlebens auf der Straße abspiele – anders als in Mittel- und Westeuropa, wo der Alltag hinter den Gartenzäunen und Haustüren stattfinde, wie Wágner beschreibt. Fast immer sei es auch zu einem intensiven Austausch mit den Anwohnern gekommen, schildert der Fotograf weiter:

„Wir wurden von den Menschen oft wirklich warm empfangen. Es geht ja nicht nur darum herumzuspazieren und Menschen aus der Ferne abzulichten. Stattdessen kommt man mit den Leuten ins Gespräch. Sie erzählen etwas über ihr Leben, und man selbst teilt auch etwas von sich. Man tauscht sich also aus, und im Gegenzug gewähren die Menschen einen Einblick in ihr Privatleben.“

Aus dem Zyklus „Lost Europe“  | Foto: Jan Dobrovský,  Galerie 400 ASA

Und diese Intimität ist den Bildern von Dobrovský, Wágner und Cudlín dann auch anzusehen – ganz gleich, ob auf dem Foto das einsame Mütterchen mit Kopftuch vor einer Holzhütte sitzt, der Mann mit der Schapka in der Kneipe hockt oder sich die Kinder auf dem Schulhof eine Schneeballschlacht liefern.

Zu erleben sind die eindrücklichen Aufnahmen aus der Ukraine im Übrigen auch in einer Publikation, die im Verlag von 400 ASA erschienen ist. Als der Bildband 2020 herausgebracht wurde, konnten die Macher noch nicht ahnen, dass nur kurze Zeit später Russland in die Ukraine einmarschieren würde. Mittlerweile geht der Reinerlös aus der Publikation an die Wohltätigkeitsorganisation Paměť národa (Memory of Nations), die Spenden für die Ukraine sammelt.

Die Ausstellung „Memories of Light“ in der Galerie 400 ASA wurde verlängert und ist noch bis zum 17. November zu sehen. Geöffnet ist montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten. Die Ausstellung „Lost Europe“ im Katzen Arts Center in den USA ist bis zum 10. Dezember zu sehen. Der gleichnamige Bildband umfasst 304 Seiten und kostet 1400 Kronen (57 Euro).

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