„Mein Vaterland“ - lebendiges Kleinod der tschechischen Musikkultur

Im Tschechischen Rundfunk erklang sie bisher in etwa 250 unterschiedlichen Einspielungen mit verschiedenen Orchestern und Dirigenten. Von dem tschechischen Orchester Nummer eins, nämlich der Tschechischen Philharmonie, wurde sie allerdings viel häufiger gespielt. Seit dem 4. Januar 1896, als die Tschechische Philharmonie ihr erstes Konzert gab, über 600 mal. Die Rede ist vom sechsteiligen Zyklus symphonischer Dichtungen von Bedřich Smetana. Das Wort Vaterland mag in der heutigen globalisierten Welt einen etwas verstaubten Eindruck machen. Für das Musikwerk „Mein Vaterland“, gilt jedoch das Gegenteil.

Mindestens einmal im Jahr werden alle sechs symphonischen Dichtungen des Zyklus „Mein Vaterland“ hierzulande gespielt. Mit einer Ausnahme stand das Musikwerk seit 1946 in jedem Jahr jeweils am 12. Mai auf dem Programm des Eröffnungskonzertes der Internationalen Musikfestspiele Prager Frühling. Dieser besondere Anlass legt hohe Ansprüche an jeden Dirigenten - eine Ehrensache und zugleich auch eine undankbare Aufgabe. Das erfahrene Publikum erwartet eine Ausführung, die etwas Neues bringt, dabei aber nichts von ihrer repräsentativen Würde verliert. Sie soll auch die Treue zu den Traditionen manifestieren, jedoch ohne übertriebenen patriotischen Pathos, technisch einwandfrei, allerdings keine Routine!

Am 12. Mai 2007 wurde der 62. Jahrgang des Musikfestivals Prager Frühling eröffnet. Zum ersten Mal in seinem Leben dirigierte der damalige Chefdirigent der Tschechischen Philharmonie, Zdenek Macal, „Mein Vaterland“ aus diesem feierlichen Anlass. Dabei hat diese Komposition seine künstlerische Laufbahn schon immer begleitet, insbesondere im Ausland, wo er viele Jahre gelebt hatte.

„´Ma vlast´ ist etwas Spezielles. Mein ganzes Leben lang habe ich ´Ma vlast´ dirigiert, eigentlich schon als Student in Olmütz. Auch später, als ich im Ausland lebte, habe ich versucht, den Zyklus als Ganzes aufs Programm zu setzen, oder zumindest einzelne Teile. Einer der bedeutendsten Momente meines Lebens ist gerade mit ´Mein Vaterland´ und den Berliner Philharmonikern verbunden. Es war Anfang der achtziger Jahre, als Karajan ihr Chefdirigent war und ich das Orchester regelmäßig dirigieren konnte. Der Intendant war damals Wolfgang Stresemann. Bei einer Programmplanung habe ich ihn darauf aufmerksam gemacht, dass am 12. Mai 1984 der 100. Todestag von Bedrich Smetana ansteht. Für den Tag und den nachfolgenden haben wir ein Konzert eingeplant. Für mich war es ein unsagbar großes Erlebnis, dass ich, Tscheche, Emigrant, den ganzen Zyklus ´Mein Vaterland´ von Smetana mit den Berliner Philharmonikern dirigieren durfte. Und das noch am 12. Mai.“

„Mein Vaterland“ im Rahmen des Musikfestivals Prager Frühling zu spielen galt Jahrzehnte lang als eine beinahe exklusive Domäne der Tschechischen Philharmonie und ihrer Chefdirigenten. In den letzten Jahren hat man das Monopol des einheimischen Orchesters Nummer eins wiederholt gebrochen, zum Beispiel mit dem London Symphony Orchestra, mit dem Sinfonieorchester der Hauptstadt Prag FOK oder mit dem Sinfonieorchester des Tschechischen Rundfunks. Mit Zdenek Macal hat man zu der Tradition zurückgefunden, zumindest im Vorjahr:

„Jetzt dirigiere ich eigentlich ein Orchester, das in der Lage ist, ´Mein Vaterland´ besser als jedes andere Orchester in der Welt zu spielen. Das ist keine Übertreibung. Das sagen auch ausländische Zuhörer, dass es niemand anders als die Tschechische Philharmonie besser spielen kann. Und wissen Sie warum? Weil das die Musiker von ihrer Jugend an immer wieder spielen. Im Hinblick auf die technischen Schwierigkeiten der Komposition kann ich mir zum Beispiel mit fast keinem anderen Orchester erlauben, die Abschlusspassage von Sarka in einem so großen Tempo zu spielen wie mit der Tschechischen Philharmonie. Aber die Spieler schaffen es, sie haben es in den Fingern.“

Die einzelnen Dichtungen von Má vlast – Vyšehrad, Vltava / Moldau, Šárka, Z českých luhů a hájů / Aus Böhmens Hain und Flur, Tábor und Blaník – komponierte Bedřich Smetana in einem Zeitraum von etwa acht Jahren. Die einzelnen Kompositionen wurden jeweils einzeln unmittelbar nach ihrer Entstehung uraufgeführt. In einem Konzert am 5. November 1882, also vor nunmehr 125 Jahren in Prag erklang der ganze Zyklus zum ersten Mal als Gesamtkomposition. Die musikalischen Bilder der sechs symphonischen Dichtungen, die auf die Geschichte des Landes und auf seine Schönheiten verweisen, waren von Smetana als eine Art Huldigung gedacht. Und als solche wurden sie auch vom Publikum empfunden. Der Zyklus spielte in den bewegten Momenten der tschechischen Geschichte eine große Rolle, insbesondere während der beiden Weltkriege. In der Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren war "Mein Vaterland" verboten.

Vyšehrad
Vyšehrad - einer der wichtigsten Orte in Prag, der Wohnsitz der sagenhaften Libuše. Durch ihre Prophezeiung soll von dieser Stelle aus die Gründung der Stadt Prag stattgefunden haben. Zu Beginn hören wir die Harfenklänge des sagenhaften Sängers Lumír, der dem Hörer von Vyšehrad erzählt. Gleich in den ersten Takten erklingt jenes markante Vyšehrad-Motiv, das wie eine „idee fixe“ alle sechs Dichtungen miteinander verbindet.

Die aus Smetanas „Vyšehrad“ und seiner Oper „Libuše“ bekannten „fließenden“ Motive erscheinen zunächst in einer Flöte, zu der sich dann eine zweite hinzugesellt. Es sind die beiden Quellflüsse der Moldau im Böhmerwald. Sie vereinigen sich zu einer einzigen grossen fliessenden Figur in den Streichern. Die Moldau ist geboren.

„Meinen Hörern wird diese Dichtung grau in grau vorkommen. Aber ich wollte sie so haben“, sagte einst Bedřich Smetana über die Komposition Tábor. In der Tat. Es beginnt mit dem ersten Takt mit dumpfen Schlägen des hussitischen Chorals „Da ihr Gottes Kämpfer seid“.

Noch ein letztes Mal zieht donnernd der Choral „Da ihr Gottes Kämpfer seid“ vorüber. Doch jetzt hat er allen Schrecken verloren. Fast wie ein triumphierendes Denkmal erscheint er jetzt. Und nach einer kurzen Überleitung steht plötzlich das Vyšehrad-Thema in seinen strahlendsten Farben da. Wieder braust der Marsch auf, jetzt aber wie der Schluss in „Z českých luhů a hájů“ wirbelnd und verbindet sich mit dem Vyšehrad-Thema zu einer Einheit. Mit schmetternden Fanfarenakkorden endet das Werk.

Den Zyklus von Smetanas symphonischen Dichtungen in seiner Gänze zu spielen ist heutzutage eher eine Seltenheit, insbesondere im Ausland. In Deutschland ist es jüngst nach einer zwanzigjährigen Pause geschehen. Am 24. Oktober 2007 erklang „Mein Vaterland“ in der Darbietung der Berliner Philharmoniker, die alle sechs Teile sogar nonstop, ohne die üblichen Pausen, spielten. Die Leitung hatte der tschechische Dirigent Jiří Bělohlávek, Chefdirigent des BBC-Orchesters in London. Über seine Zusammenarbeit mit dem deutschen Spitzenorchester sprach er in Superlativen. Bei so einem Treffen mit einem Orchester, so Bělohlávek gegenüber dem Tschechischen Rundfunk, komme er bei den Proben mit seiner eigenen Konzeption, lasse sich aber gerne auch durch eine interessante Idee der Partnerseite inspirieren. Bei den Berliner Philharmonikern sei aber noch etwas mehr dabei gewesen:

„Das Orchester wollte so viel wie möglich über die Tradition der Aufführungen von ´Mein Vaterland´ erfahren und saugte die Informationen wie ein Schwamm auf. Das Interesse war wirklich groß und auch die Zusammenarbeit war sehr harmonisch. Die Berliner Philharmoniker sind leidenschaftliche, anspruchsvolle und gleichzeitig auch sympathische Menschen. Mit Recht bezeichnet man sie als das beste Orchester Europas oder eines der besten Orchester der Welt.“

Einer der legendären tschechischen Dirigenten, die aus der 125 Jahre alten Geschichte von ´Mein Vaterland´ nicht wegzudenken sind, ist Rafael Kubelik. Die Tschechische Philharmonie dirigierte er schon mit 19 Jahren. 1946 eröffnete er mit ihr und mit „Mein Vaterland“ den ersten Jahrgang des Musikfestivals „Prager Frühling“. Zwei Jahre später emigrierte er in die USA, wo er sich als einer der besten Dirigenten seiner Zeit etablierte. Chicago Symphony Orchestra, Covent Garden Opera in London, Bayerischer Rundfunk München, Metropolitan Opera in New York – das sind nur einige Stationen seiner Laufbahn. Bekannt geworden sind Kubeliks Worte:

„Ich habe mein Vaterland verlassen, um nicht meine Nation verlassen zu müssen.“

Seine künstlerische Karriere vollendete sich aber doch in seinem Heimatland. Am 12. Mai 1990 dirigierte er die Tschechische Philharmonie in ihrem Eröffnungskonzert des Prager Frühlings, dem ersten nach der politischen Wende. Unvergesslich wurde aber auch das Open-Air-Konzert im Juni 1990, in dem der charismatische Dirigent, damals schon 76 Jahre alt, dasselbe Orchester auf dem Altstädter Ring in Prag leitete. Auch damals stand auf dem Programm ´Mein Vaterland´. 1996 ist Rafael Kubelik in der Schweiz gestorben. Seine Gebeine wurden aber nach seinem Wunsch auf dem Slavín-Friedhof auf dem Vyšehrad beigesetzt.