Montags in Nordböhmen... - Selbstmord und Statistik in Tschechien

Die letzen bunten Blätter des Herbstes sind verschwunden, die Tage sind fahl und lichtlos. Der November ist eine gute Zeit für trübe Gedanken und, wie man meinen sollte, auch eine gute Zeit, um endgültig mit ihnen Schluss zu machen. Fast vier Menschen tun das durchschnittlich an jedem Tag in Tschechien. Der Selbstmord fordert damit mehr Menschenleben als der Straßenverkehr. Fakten und Mythen aus Böhmen über die letzten Dinge aus eigener Hand.

Foto: Denisa Tomanová
Genau 1400 Selbstmorde verzeichnet die tschechische Statistik für das Jahr 2006 - nicht nur eine glatte Zahl, sondern auch der geringste Wert seit Gründung der Tschechoslowakei. Seit den siebziger Jahren weist die Kurve kontinuierlich nach unten; international steht Tschechien auf einem Durchschnittsplatz. Das war nicht immer so. Gemeinsam mit Österreich und vor allem mit den schwerblütigen Ungarn bildeten die Böhmischen Länder lange Zeit das europäische Bermuda-Dreieck der Selbstmörder, erklärt Bevölkerungswissenschaftlerin Jitka Rychtaříková:

„Historisch gesehen ist die Selbstmordrate vor allem in den mitteleuropäischen Ländern hoch, und nicht, wie man vermuten könnte, in Skandinavien, wo es die langen Polarnächte gibt. Es gibt da eine Theorie, der ich allerdings nicht besonders zugeneigt bin, die besagt, dass es daran liegt, dass es in Mitteleuropa kein Meer gibt und die Menschen deshalb eher zu Depressionen neigen.“

Was bewegt Menschen in Tschechien dazu, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Warum zu dieser Zeit, warum an diesem Ort? Das Forschungsfeld Selbstmord, das zeigt sich schnell, ist gespickt mit Hypothesen. Vladimír Polášek hält sich lieber an die Fakten. Er ist beim Tschechischen Statistischen Amt für die Selbstmord-Statistik zuständig. Lässt sich aus den Daten über Alter, Geschlecht und Wohnort ein spezifisches Profil eines Selbstmörders erstellen?

„Nein, das geht nicht. An Typischem kann man allenfalls festhalten, dass die Männer im Verhältnis 5:1 überwiegen und die Quote mit zunehmendem Alter steigt. Geographisch gibt es Gegenden mit höherer und niedriger Rate, aber das heißt nicht, dass sie hier extrem hoch ist und dort bei Null liegt. Immerhin: Eine geringere Selbstmordrate gibt es im Süden des Landes, in Mähren und vor allem in Südmähren. Die höchste Rate wird demgegenüber im nordwestlichen Grenzgebiet verzeichnet.“

Auffällig ist: Bei einem Schnitt durch das Land von Westböhmen bis nach Südmähren steigt mit abnehmender Selbstmordrate die Zahl der Gläubigen und auch der Anteil der Menschen, die im Umfeld ihres Geburtsortes und ihrer Familie leben. Liegt der entscheidende Einfluss also bei Tradition und Religion?

„Das ist keine Erklärung, aber einer der möglichen Zusammenhänge. So wie die Selbstmordrate sind übrigens andere negative Phänomene in Tschechien verteilt: etwa Abtreibungen und Ehescheidungen.“

Die nordböhmische Stadt Most
Die Abwesenheit Gottes, der bröckelnde Familienzusammenhalt oder doch das fehlende Meer - welche äußeren Einflüsse könnten in den Augen der Statistik geeignet sein, Selbstmordtendenzen zu verstärken? Bevölkerungswissenschaftlerin Jitka Rychtaříková sieht vor allem in Diskontinuitäten einen möglichen Faktor. Die leicht überdurchschnittliche Selbstmordrate in Nordböhmen könnte dafür ein Beleg sein - die Region ist seit Jahrzehnten im Wandel:

„Ich glaube, die Selbstmorde hängen vor allem mit schnellen und heftigen Veränderungen zusammen, was man vor dem Krieg vielleicht an der Ausbreitung der Industrie in Nordböhmen sehen kann. Interessant ist aber, dass auch nach dem Krieg und dem Bevölkerungsaustausch die Selbstmordrate in Nordböhmen immer noch hoch ist. Es geht also, wenn man es zugespitzt sagen will, offensichtlich nicht um die Nationalität, sondern um die äußeren Bedingungen, die dort immer noch unruhig sind – heute durch die Migration, damals durch Industrialisierung. Die Wende und die neunziger Jahre sind da schon widersprüchlicher. Natürlich gab es da auch große Umwälzungen, für manche Menschen ist das Lebensniveau relativ gesunken, aber zugleich haben sich viele Möglichkeiten eröffnet und die Menschen können frei entscheiden – und das ist vielleicht das entscheidende für die heute niedrige Selbstmordrate.“

Jitka Rychtarikova  (Foto: www.demografie.info)
Die bis heute kontinuierlich anhaltende Wende zum Besseren fällt erstaunlicherweise in den Anfang der siebziger Jahre, trotz der damaligen bleiernen Zeit der so genannten Normalisierung, die die Hoffnungen des Prager Frühlings beendete. Der Höchstwert der Nachkriegszeit lag mit mehr als 2800 Selbsttötungen im Jahr 1970 – seitdem ist die Zahl auf die Hälfte gefallen.

„Ich persönlich glaube, dass dieser Rückgang womöglich damit zu tun hat, dass es in dieser Zeit eine so genannte ´Rückkehr zur Familie´ gab. Die Geburtenraten sind gestiegen, es gab gezielte Familienförderung – der Staat hat sich bemüht, die Leute zu Hause zu halten, damit sie sich um die Familie kümmern anstatt politisch auf dumme Gedanken zu kommen. Das war so ein Ausweichen ins Familiäre, vielleicht hat das zum Fallen der Selbstmordraten beigetragen.“

Mit sanft düsteren Klängen begleitet uns heute die Band „Duben v Pesti“ - „April in Budapest“: der selbstmordträchtigste Monat in der selbstmordträchtigsten Stadt Europas. Unnötig zu erwähnen, dass die Band aus Nordböhmen kommt. Ausgerechnet der Frühling und keinesfalls der triste Herbst ist aber auch in Tschechien die Jahreszeit, in der die meisten Selbstmörder zur Tat schreiten. Entgegen verbreitetem Glauben bergen auch die Zeugnisvergabe und die Weihnachtstage keinen Schrecken, weiß Statistiker Vladimír Polášek:

„Keine von diesen Legenden ist wahr. Im Gegenteil: nicht nur dass der Dezember der Monat mit den wenigsten Selbstmordfällen ist, sondern gerade zu Weihnachten liegt die Selbstmordrate sogar besonders niedrig. Auch der Herbst bringt keinen Anstieg der Selbstmorde, sondern fügt sich in den Jahreszyklus ein. Die meisten Selbstmorde gibt es im Frühjahr, genauer gesagt im April. Dann sinkt die Zahl bis zum Dezember, und auch der Herbst bringt da keine Änderung.“

Womöglich sind es tatsächlich Neuanfänge und Veränderungen, die, vermutlich nicht nur in Tschechien, unstabilen Personen am meisten zusetzen. Das Frühjahr ist schließlich der Beginn des Jahreskreises. Und auch der Neujahrstag weist im langjährigen Vergleich erkennbar höhere Selbstmordzahlen auf. Außerdem:

„Die größte Zahl der Selbstmorde in Tschechien gibt es statistisch am Montag, dann nimmt es ab bis Samstag, und am Sonntag gibt es wieder einen leichten Anstieg. Die Unterschiede liegen zwar nur in ein paar Prozentpunkten, aber sie lassen sich nachweisen.“

Ganz deutlich nachweisbar ist schließlich ein Faktor: In den südlichen Ländern gibt es deutlich weniger Selbstmorde als in Tschechien und in Mitteleuropa. Also doch das Meer? Hier beginnt zu guter letzt auch der Statistiker Vladimír Polášek zu spekulieren:

„Vielleicht hat das etwas mit der Mentalität zu tun: im Süden ist man etwas heißblütiger – der Mann gibt der Frau eine Ohrfeige, die Frau schlägt zurück, und so regelt sich das, während die Tschechen und andere sitzen und grübeln und dann darauf kommen, dass es nicht anders geht als vor den Zug zu springen. Diese Theorie wird ein bisschen von meiner Erfahrung gestützt, dass das Phänomen Selbstmord unter Roma kaum vorkommt, auch wenn wir da keine Statistik haben. Da gibt es halt Schreierei und Ohrfeigen, und damit ist es gut.“