Mutter der tschechischen Chemieindustrie: Spolchemie und Ústí nad Labem

Gebäude der Spolchemie

Die Chemieindustrie hierzulande ist aus einem einzigen Unternehmen heraus entstanden – und zwar der Spolchemie. Das einst größte Werk seiner Art in der Habsburger Monarchie und eines der größten in Europa hat zudem die nordböhmische Stadt Ústí nad Labem / Aussig an der Elbe nachhaltig verändert und geprägt.

Seit 167 Jahren besteht das Unternehmen Spolchemie in Ústí nad Labem bereits. Trotz der Verstaatlichung nach dem Krieg und Problemen während der Transformation der tschechischen Wirtschaft in den 1990er Jahren konnte der Betrieb dort aufrechterhalten werden. Heute handelt es sich um ein börsennotiertes Unternehmen für Fertigungschemikalien. Nach eigenen Angaben ist man einer der führenden Hersteller von Kunstharzen in Europa. Seit 2021 ist die Investmentgruppe Kaprain der Eigentümer, hinter diesem Konzern steht der tschechische Milliardär Karel Pražák.

Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Spolchemie ein weitverzweigter Konzern, dessen Produktpalette weit über chemische Erzeugnisse hinausreichte. Aber warum wurde die Fabrik im Jahr 1856 überhaupt in Ústí, dem damaligen Aussig angesiedelt? Martin Krsek ist Historiker am Museum der Stadt. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erläuterte er:

Martin Krsek  | Foto: Archiv des Museums der Stadt Ústí nad Labem

„Die Verkehrsanbindung war gut. Seit 1851 gab es eine Bahnlinie zwischen Prag und Dresden, die durch Ústí führte. Und die Elbe bildete eine weitere Möglichkeit zur Beförderung von Gütern. Außerdem begann sich die Kohleförderung am Rande der Stadt zu entwickeln. Damit lag alles recht nah beieinander. Ein weiterer Faktor war, dass es in der Umgebung Glashütten und Textilfabriken gab.“

Die Idee zu dem Chemiebetrieb kam aber von deutscher Seite. Der aus Hessen stammende Chemiker Christian Gustav Clemm stellte damals sein Projekt im Palais von Fürst Schwarzenberg in Wien vor. Es kamen die Vertreter weiterer wichtiger Adelsgeschlechter der Donaumonarchie wie die Fürstenbergs, Nostitz‘ oder Choteks, aber auch reiche Unternehmer und Bankdirektoren. Jan Charvát ist Sprecher der heutigen Spolchemie und schildert die historische Zusammenkunft:

„Alle trafen sich dort auf Bitten von Schwarzenbergs Gast Christian Gustav Clemm. Er war aus Mannheim gekommen und hatte zuvor unternehmerisch nicht gerade Erfolge gefeiert. Nach Wien war er gereist, um die Idee für eine neue Soda-Fabrik zu präsentieren. Anscheinend war sein Vortrag überzeugend, denn es gelang ihm, von den Anwesenden insgesamt 700.000 Goldtaler als Grundkapital zu bekommen. Diese Summe wurde nach der ersten Aktienemission sogar auf eine Million Goldtaler erhöht.“

Westlich der Stadtbefestigung von Ústí erwarb man dann ein Grundstück von 50 Hektar Fläche, auf dem die Fabrik entstand.

Clemm wurde der erste Direktor des neuen Unternehmens, das sich Österreichischer Verein für Chemische und Metallurgische Produktion nannte. Schon bald wurde er aber entlassen. Dann stand er jedoch mit seinen Patenten an der Wiege der BASF in Mannheim.

Chemiewerk in Ústí nad Labem | Foto: Jan Zejda,  Tschechischer Rundfunk

Projekt des deutschen Chemikers Clemm

Die neue Chemiefabrik in Ústí bedeutete für das eher beschauliche Städtchen einen grundlegenden Wandel. Anwohner und Politiker seien daher Sturm gegen das Projekt gelaufen, weiß Krsek…

„Die Fabrik war in der Stadt zu riechen, denn sie stand am Westrand, von wo meist der Wind kam. Die höchsten Gesundheitsbehörden hatten ursprünglich sogar verboten, einen Chemiebetrieb so nah an einer Stadt zu errichten. Doch die Gründer dieser Fabrik waren bedeutende Mitglieder der Elite in der k. u. k. Monarchie. Und ihnen gelang es, das Verbot beiseitezuschieben“, so der Historiker.

Und so wurde aus Ústí nad Labem nolens volens ein Industriestandort. Spolchemie-Sprecher Charvát betont allerdings, dass dies für die Stadt auch praktische Neuerungen mit sich gebracht habe:

„Die ersten Planungen der Fabrik rechneten unter anderem damit, dass jährlich 3000 Tonnen Natriumcarbonat, also Waschsoda, 6000 Tonnen Schwefelsäure, 7000 Tonnen Salzsäure und zwei Millionen Kubikmeter Leuchtgas hergestellt wurden. Und beim letzten Produkt sollte auch ein wichtiger Anteil der Stadt zugutekommen. Damit konnte man das Rathaus günstig stimmen, um den Bau der Fabrik zu genehmigen. Und so wurde Ústí im Jahr 1857 die zweite Stadt auf tschechischem Boden nach Prag, die Gas nutzte für die Straßenbeleuchtung.“

Wichtigstes Produkt der neuen Fabrik war allerdings Natriumcarbonat, also Soda. Dies diente als Grundstoff in der Glasherstellung, der Textilverarbeitung und in der Papier- und Zellstoffherstellung. Früher hatte man Soda aus natürlichen Quellen gewonnen, doch die künstliche Produktion bildete erst die Basis für das Entstehen weiterer Industriezweige in der ganzen Welt. 1883 wurde auch in Ústí auf eine modernere Fertigungsmethode dieses Grundstoffs umgestellt. Der damalige Firmenchef Max Schaffner handelte eine Zusammenlegung mit der belgischen Firma Solvay aus, deren Ammoniak-Soda-Verfahren entscheidenden Vorteil bot.

Damit einher schritt auch der Wandel von Ústí. Als der Österreichische Verein für Chemische und Metallurgische Produktion gegründet worden sei, habe die Stadt rund 6000 Einwohner gehabt, schildert Martin Krsek. Außerdem sei sie bis dahin agrarisch geprägt gewesen…

„Der Reichtum der Stadt gründete ursprünglich auf der Produktion von Wein. An den Hängen der Elbufer erstreckten sich Weinberge. Nun aber zog die Chemieindustrie weitere Fabriken nach Ústí. So gründete etwa Johann Schicht gerade deswegen hier seine berühmte Seifenfabrik, weil er von der anderen Seite der Elbe problemlos die Rohstoffe beziehen konnte. Des Weiteren entstand in den 1870er Jahren die größte Glasbläserei in Österreich-Ungarn, diese war eine Tochtergesellschaft des Chemiekonzerns. Der Einfluss der Industrie war riesig, die Unternehmen brauchten alle viele Arbeiter. Diese kamen sowohl aus dem tschechisch geprägten Binnenland, als auch aus den deutschsprachigen Mittelgebirgen und von der anderen Seite der Grenze, also aus Sachsen. Die Zahl der Stadtbewohner wuchs daher unglaublich schnell an, ohne dass die Stadt beim Bau von Häusern hinterherkam. Das führte zu einer Wohnkrise“, erzählt der Geschichtswissenschaftler.

Die Arbeiter mussten praktisch in ihren Räumlichkeiten in Schichten schlafen. Erst nach und nach entstand ein komplettes neues Viertel für die Industriearbeiter.

Verein für Chemische und Metallurgische Produktion | Foto: Jan Pácha,  Tschechischer Rundfunk

Der Staat übernimmt die Kontrolle

Als strategisch wichtiges Unternehmen hatte die Chemiefabrik im Ersten Weltkrieg keine Nachteile. Bei der anschließenden Gründung der Tschechoslowakischen Republik bemühte sich der neue Staat sofort, den gesamten Konzern unter seine Kontrolle zu bekommen. Denn es war die einzige Chemiefabrik auf tschechischem und slowakischem Boden. Dies gelang mit Hilfe des Kreditinstituts Živnostenská banka. Aus dem Firmennamen wurde nun das Adjektiv österreichisch gestrichen, sodass er nur noch Verein für Chemische und Metallurgische Produktion lautete. Oder auf Tschechisch: Spolek pro chemickou a hutní výrobu, kurz: Spolchemie.

„Obwohl die Führung nun tschechisch war, blieb das Personal in großer Mehrheit deutschsprachig. Die Chemiefabrik warb gute Chemiker aus deutschsprachigen Ländern an und bot daher hohe Gehälter und attraktive Boni. Die Fachkräfte verhalfen dem Betrieb wiederum zu weiterem Wachstum durch erfolgreiche eigene Forschung“, sagt Martin Krsek.

Spolana Neratovice | Foto: Josef Podolák,  Tschechischer Rundfunk

Zwischen den Kriegen hatte der Chemiekonzern aus Ústí laut der Website der heutigen Spolchemie eine dominante Stellung auf seinem Gebiet in Europa. Außerdem wurden Ableger im ganzen Land gegründet, und das bildete die Grundlage für die heutige Chemieindustrie in Tschechien. So entstanden auch heute noch erfolgreiche Firmen wie Synthesia Pardubice, wo Farben hergestellt wurden, Spolana Neratovice mit ihrer Chlorchemie oder die chemischen Betriebe im nordwestböhmischen Sokolov / Falkenau und im slowakischen Nováky. Und weiter Spolchemie-Sprecher Charvát:

„Der ursprüngliche Betrieb in Ústí war konzipiert für die Herstellung von anorganischen Produkten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam der Bereich organische Farben und Halbfertigprodukte hinzu. Aus der Unternehmensstruktur von 1937 geht hervor, dass wir acht Fabriken in Europa besessen haben – von Jugoslawien bis Frankreich. Über Solvay kamen noch weitere acht Fabriken in der Tschechoslowakei und anderswo in Europa hinzu.“

Doch zu dieser Zeit lag bereits die Gefahr eines Krieges und eines möglichen Einmarsches durch Nazi-Deutschland in der Luft. Die tschechoslowakische Führung von Spolchemie sorgte daher dafür, dass wichtige Unternehmensteile in die Tochterfirmen weiter im Inland verlegt wurden. Als Hitler Ende September 1938 im Münchner Abkommen die Sudetengebiete zugesprochen bekam, war der Chemiekonzern auf den Einschnitt bereits vorbereitet. Martin Krsek:

„Als die Grenzgebiete besetzt wurden, vereinbarte die tschechoslowakische Seite den Verkauf der Werke im nun abgetrennten Teil an deutsche Unternehmen. Für 800 Millionen Kronen wurde nicht nur die Fabrik in Ústí, sondern etwa auch jene in Sokolov abgetreten – sie gehörten also nicht mehr zum Chemiekonzern. Da der Konzern sehr weitverzweigt war, existierte er aber weiter, obwohl er von der Zentrale in unserer Stadt abgetrennt war.“

Die Konzernzentrale wurde von der IG Farben aufgekauft. Nach dem Krieg holte der tschechoslowakische Staat diese wieder zurück, indem er das Eigentum des deutschen Unternehmens konfiszierte – und so wurden beide Teile der ursprünglichen Spolchemie wieder zusammengefügt. Allerdings war der Konzern nicht mehr in Privathänden. Und einige der früheren Tochterunternehmen wurden abgespalten. Vor allem aber begrenzte nun der Eiserne Vorhang die Entwicklungsmöglichkeiten…

„Der Chemiekonzern knüpfte in vielen Bereichen an die Vorkriegs-Tradition in der Produktion an. Aber die Auslandsbeziehungen waren deutlich eingeschränkt. Schon während des Zweiten Weltkriegs wurden sie teils gekappt, aber nach der kommunistischen Machtübernahme waren sie praktisch gar nicht mehr möglich. Dadurch sank die Bedeutung des Konzerns. Zwar behielt er seine herausragende Stellung in der Tschechoslowakei, konnte sich zudem einen guten Namen im Ostblock machen und betrieb weiter erfolgreiche Forschungsarbeit, er hatte aber keine herausragende Stellung mehr in Europa inne“, sagt der Historiker.

Verein für Chemische und Metallurgische Produktion | Foto: Jana Volková,  Tschechischer Rundfunk

Dabei wurden in Ústí viele weitere Produkte in die Palette aufgenommen. Firmensprecher Charvát nennt neben den bereits erwähnten Kunstharzen auch Schwefelsäure, Superphosphat-Dünger, Kaliumpermanganat, Flusssäure oder Schwefelwasserstoff. Hinzu kamen gefährliche Substanzen wie das Insektizid DDT oder Fluorkohlenwasserstoffe, die in früheren Kühlschränken zum Einsatz kamen.

Mit einer solchen Produktpalette habe die Chemieanlage nach dem Krieg zu einer äußerst starken Umweltbelastung in Ústí und der Umgebung geführt, schildert Krsek:

„Sie hat nicht nur die Luft sehr verschmutzt, sondern auch das Wasser – und das zum Beispiel durch einen so gefährlichen Stoff wie Quecksilber. In der Nachkriegszeit wurde hier mit der sogenannten Chloralkali-Elektrolyse begonnen, bei der große Mengen an Quecksilber entwichen sind. Bis heute ist der Boden hier dadurch stark kontaminiert. Aber das Element ist auch ins Wasser geraten. Wer noch vor 1980 in Ústí geboren wurde, erinnert sich sicher an den stinkenden Fluss Bílina und seine wechselnden Farben, die dem jeweiligen Prozess der Farbherstellung bei Spolchemie entsprachen. Mal war das Wasser gelb, mal rot, mal lila. Und es stank chemisch. In der Bílina schwamm nichts Lebendes mehr.“

Diese Zeiten sind heute glücklicherweise vorbei. Und Spolchemie existiert weiterhin. Laut Firmensprecher Charvát liegt die Zahl der Beschäftigten bei 800, und die rund 80 Produkte werden in 50 Länder der Welt exportiert.

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Autoren: Till Janzer , Jiří Zeman
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