Nationen ohne koloniale Tradition sehen sich gern als Opfer

На Вацлавской площади в Праге

"Kultur, Rassismus und Nationalismus": Unter diesem Motto stand eine Debatte, die die tschechische Akademie der Wissenschaften in der vergangenen Woche organisiert hat. Einer der Diskutierenden war auch der Regierungsbevollmächtigte für Menschenrechte, der Arzt und Kulturanthropologe Jan Jarab, den meine Kollegin Markéta Maurová ans Mikrophon bat.

Der Untertitel der heutigen Debatte lautet "Kultur, Rassismus und Nationalismus". Glauben Sie, dass man sich in der tschechischen Gesellschaft vor Nationalismus fürchten muss?

"Natürlich, man muss sich vor Nationalismus fürchten, weil wir uns jetzt in einer Phase befinden, in der eine große Unsicherheit in der Bevölkerung existiert und existieren wird. Unsere traditionellen Sicherheiten sind weg, die Produktion ist in großem Maß verschwunden, sie konzentriert sich in China oder in Indien... Und in dieser Gesellschaft gibt es natürlich eine starke Nostalgie mit dem Bedürfnis nach einer Gemeinschaft, nach Identität, nach einer unkomplizierten Identifizierung, meistens mit einer nationalen Gruppe, weil das am einfachsten ist."

Glauben Sie, dass die tschechische Gesellschaft in dieser Hinsicht schlechter als andere europäische Nationen dran ist? Sie haben kürzlich in einem Artikel geschrieben, dass die kleinen Nationen, die ihre Existenz früher selbst behaupten mussten, dazu neigen, neue Ankömmlinge, neue Ausländer nicht aufzunehmen?

"Ja, ich bin der Meinung, dass die kleinen Nationen, die keine Geschichte der kolonialen Herrschaft haben, leider eine Tendenz dazu haben, sich selbst als Opfer zu sehen. Sie hören nicht gern, dass andere Gruppen, kleinere, schwächere Gruppen auch Opfer sein können. Ich bin aber nicht der Meinung, dass die Tschechen in diesem Sinne schlimmer als Bürger anderer neuer Länder in der Europäischen Union sind. Alle diese neuen Mitglieder sind kleine Staaten, mit der Ausnahme von Polen natürlich, aber auch Polen, obwohl es ein ganz großes Land ist, ist ein Land, das in dieser Hinsicht als ein kleines gelten kann, weil es immer wieder um die eigene Existenz fürchten musste."

Und was ist die Aufgabe, vor der die tschechische Gesellschaft steht? Man kann wohl einen Zustrom von Ausländer erwarten...

"Ich weiß nicht, ob man einen großen Zustrom von Ausländern erwarten kann. Aber was soll die tschechische Gesellschaft machen? Also eine bestimmte Selbstreflexion wäre für die tschechische Gesellschaft sehr gesund, meiner Meinung nach. Das heißt einen Unterschied zwischen den Werten des konstitutionellen Patriotismus auf der einen Seite und den ethnisch spezifischen tschechischen Werten auf der anderen Seite zu machen."