Natürlicher Bevölkerungszuwachs in Tschechien: Aufwärtstrend könnte bald einknicken

Foto: Europäische Kommission

Schon das dritte Jahr in Folge werden in Tschechien wieder mehr Kinder geboren, als man Todesfälle zählt. Es gibt also einen natürlichen Bevölkerungszuwachs. Doch dazu, dass die Tschechen als Nation langfristig wachsen, reicht das nicht. Denn der Aufwärtstrend könnte bald wieder einknicken. Forum Gesellschaft befasst sich mit den Gründen und Hintergründen dieser neuesten demografischen Entwicklungen.

Antonín Pařízek
Auch im vergangenen Jahr stieg die Einwohnerzahl von Tschechien wieder, und zwar nicht nur durch Zuwanderung. 14.600 mehr Geburten als Todesfälle wurden gezählt. Es gab also einen natürlichen Bevölkerungszuwachs. Seit drei Jahren hält der nun schon an, davor war die Bilanz mehrere Jahre lang negativ. Hinter dem positiven Saldo verbirgt sich ein Anstieg der Geburtenrate oder Fertilität, wie man sie in Fachkreisen auch nennt. Erleben wir also hierzulande einen Babyboom? Antonín Pařízek ist leitender Arzt der Prager Entbindungsanstalt Zum Heiligen Apollonius:

„Ich weiß nicht recht, ob man von einem Babyboom sprechen soll. Es ist richtig, dass die Zahl der neugeborenen Kinder schon seit geraumer Zeit steigt. Zuletzt waren es jeweils 4000 bis 5000 Kinder mehr als im Jahr davor. Das heißt, wir hatten einen Anstieg von etwa fünf Prozent jährlich.“

Entbindungsanstalt Zum Heiligen Apollonius  (Foto: Olga Vasinkevich)
Fünf Prozent Anstieg der Geburtenrate pro Jahr, das ist nicht wenig. 2008 markiert den bisherigen Gipfel des steigenden Trends. In absoluten Zahlen sind im Vorjahr 119.600 Kinder zur Welt gekommen, 2005 noch waren es nur knapp 100.000 gewesen. Was den Optimismus von Antonín Pařízek dämpft, ist aber nicht die Zuwachsrate, sondern der zeitliche Horizont:

„Ich glaube, dieser Aufwärtstrend wird nicht mehr lange anhalten. Die Mütter, die diesen Anstieg bewirken, sind Frauen der geburtenstarken Jahrgänge aus den 70er Jahren. Wir nennen diese Generation umgangssprachlich die ´Husák-Kinder´. Denn sie stammen aus der Zeit, als die Kommunisten unter der Führung Gustáv Husáks das Kindergeld erhöhten und weitere familienpolitische Maßnahmen einführten.“

In den 1970er Jahren wandten sich die Menschen in der damaligen Tschechoslowakei verstärkt dem Familienleben zu. 1968 hatten Truppen des Warschauer Pakts das Land besetzt. Der so genannte „Prager Frühling“ war niedergeschlagen worden, die Zeit erneuter Repressionen begann. Verängstigt zog sich die Bevölkerung aus der öffentlichen Sphäre ins Privatleben zurück. Das Regime bestärkte sie in der politischen Abstinenz unter anderem durch eine familienfreundliche Politik.

Foto: Europäische Kommission
Die Frauen, die damals geboren wurden, wären eigentlich schon in den 1990er Jahren im gebärfähigen Alter gewesen. Doch abermals kam ein historischer Umbruch – die Wende zu Demokratie und Marktwirtschaft. Solche tief greifenden Wandel, das wissen die Demografen, beeinflussen das Verhalten der Bevölkerung und die Fertilität. Die Zeit nach dem 17. November 1989 brachte neue Risiken und Chancen, die verunsicherten Menschen warteten ab. Viele Frauen der Generation der 1970er Jahre schoben die Familiengründung auf, sie bringen ihre Kinder erst jetzt zur Welt. Das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt eines Kindes liegt derzeit in Tschechien bei rund 29 Jahren. Dass diese Geburtenwelle bald enden dürfte, vermutet auch Jitka Rychtaříková vom Demografischen Institut der Karlsuniversität, und sie sieht dafür gleich mehrere Gründe:

„Ich schätze, dass die Geburtenrate bereits im nächsten Jahr, wenn nicht sogar schon dieses Jahr wieder sinkt. Und zwar aus zwei Gründen: Der erste Grund ist die Wirtschaftskrise. Denn sie macht die Zukunftsaussichten unsicher. Der zweite Grund liegt in einem demografischen Faktor. Der Geburtenzuwachs der letzten Jahre wurde von Müttern ausgelöst, die bereits über 30 Jahre alt waren.“

Die Wirtschaftskrise dürfte demnach den Babyboom also bremsen. Dies ist eine neue Prognose. Bis vor kurzem schließlich gedieh die Wirtschaft noch, die Bevölkerung wurde wohlhabender, und die junge Generation blickte zuversichtlich in die Zukunft. Für viele schien der rechte Zeitpunkt für ein Kind gekommen. Nun werden Frauen vom Arbeitsmarkt gedrängt, doch das bedeutet nicht, dass sie wieder verstärkt die Mutterrolle suchen. Demografin Jitka Rychtaříková:

Jitka Rychtaříková  (Foto: Autorin)
„Wir wissen aus der Vergangenheit, dass die tschechischen Familien sehr pragmatisch sind. Sobald sich die Lebensbedingungen verschlechtern, reagieren sie darauf, und die Geburtenzahlen gehen zurück.“

Die Aussagen mancher junger Frauen scheinen diese generalisierende Einschätzung allerdings nicht zu bestätigen. Ihr Wunsch nach einem eigenen Kind klingt entschlossen und kennt kein Wenn und Aber:

„Gewiss möchte ich später einmal eine eigene Familie haben, eine standardgemäße, mit zwei Kindern. Natürlich wird das meine Karriere beeinträchtigen, aber das ist, würde ich sagen, ein Opfer, das man gerne bringt.“

An die Wirtschaftskrise denkt diese junge Frau gar nicht. Eher macht ihr die allgemeine Haltung den Familien gegenüber Sorgen:

Foto: Štěpánka Budková
„Meiner Ansicht nach ist die Atmosphäre in Tschechien ziemlich familienfreundlich. Aber die Gesellschaft könnte Frauen, die Kinder haben möchten, noch mehr unterstützen. Die Arbeitgeber sollten den Müttern stärker entgegenkommen, und die Menschen sollten Müttern mit Kindern mehr helfen. Ein Beispiel: Wenn eine Mutter mit einem Kinderwagen in die Straßenbahn einsteigen möchte, dann hilft ihr fast niemand. Ich habe das auch selbst schon erlebt.“

Vor allem aber seien junge Mütter am Arbeitsmarkt stark benachteiligt, findet sie. Das befürchtet auch diese Mutter zweier kleiner Kinder:

„Natürlich will ich später wieder ins Arbeitsleben zurückkehren, doch das wird nicht einfach. Es gibt zu wenig Teilzeit-Arbeitsplätze, die Berufstätigkeit von Müttern mit Kindern müsste mehr unterstützt werden.“

Dass die Arbeitgeber auf Frauen mit kleinen Kindern oft wenig Rücksicht nehmen, dem pflichtet auch Jitka Rychtaříková bei:

„Es geht heute hauptsächlich darum, dass Familie und Beruf vereinbar sein sollten. Und hier steht es heute für die Frauen schlecht. Viele Arbeitgeber finden auf Umwegen heraus, dass eine Frau kleine Kinder hat – auch wenn sie kein Recht dazu haben. Und dann teilen sie der Bewerberin mit, dass die Stelle schon besetzt sei.“

Manche familienpolitischen Regelungen seien geradezu kontraproduktiv, kritisiert Rychtaříková. Tschechien habe zwar einen langen Elternurlaub. Bis zu vier Jahre lang kann eine Mutter bei ihrem Nachwuchs zu Hause bleiben. Doch dieser Elternurlaub sei schlecht bezahlt, außerdem büßt die junge Mutter im vierten Jahr den Anspruch ein, auf ihren früheren Arbeitsplatz zurückzukehren.

„Ein familienfreundliches Klima entsteht zudem dadurch, dass vorschulische Einrichtungen für Kinder allgemein zugänglich sind und die Familien Wahlmöglichkeiten haben.“

Das sei in Tschechien aber nicht der Fall, so Rychtaříková. Kinderkrippen gebe es so gut wie keine, die Kindergärten seien überlastet. Grund zum Nachdenken also, denn damit die Tschechen als Nation zahlenmäßig gleich stark bleiben, müsste sich einiges ändern. 2008 lag der statistische Durchschnitt – trotz des Aufwärtstrends – bei 1,5 Kindern pro Frau. Damit die Tschechen langfristig nicht weniger werden, müssten es 2,1 Kinder sein.