Neues aus britischen Archiven zum Attentat auf Heydrich

Hätte es kein Attentat auf Reinhard Heydrich gegeben, wäre heute die Hälfte der Tschechen nicht mehr da. Dies sagte der in Großbritannien lebende Tscheche Alois Denemarek vor einer Woche in einem BBC-Interview. Seine Familie hatte tschechische Widerstandskämpfer unterstützt, die 1941 in kleinen Trupps über dem Protektorat absprangen. Unter ihnen waren auch zwei Angehörige der Gruppe „Antropoid“. Sie hatten die Aufgabe, den Anschlag auf den stellvertretenden Reichsprotektor in Prag durchzuführen. Dem folgenden Nazi-Terror sind rund 5000 tschechische Bürger zum Opfer gefallen, darunter auch Denemareks Eltern und Bruder. Er selbst hat nur durch Zufall überlebt. Am 27. Mai jährte sich zum 70. Mal der Anschlag auf den Chef des deutschen Reichssicherheitshauptamtes, der am 27. September 1941 nach Prag mit dem Auftrag entsandt wurde, „die tschechische Frage“ zu lösen.

Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich | Foto: Bundesarchiv,  Bild 146-1972-039-44,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0
Genau vor einer Woche wurde in ganz Tschechien an die historischen Ereignisse um das Attentat auf Reinhard Heydrich gedacht. Nach 70 Jahren glauben aber viele Tschechen, noch kaum etwas Neues dazu erfahren zu können. Filme, Sachbücher, Romane, Ausstellungen mit authentischen Fotos, Dokumente – all das und noch vieles mehr hat Jahre lang ihr Bewusstsein dafür geformt, was genau am 27. Mai 1942 um halb elf vormittags in einer heute nicht mehr existierenden Straße im Prager Stadtteil Kobylisy passiert war. Im Lauf der Zeit haben auch Historiker und Forscher den von Jozef Gabčík und Jan Kubiš durchgeführten Anschlag wie in einem Krimi Schritt für Schritt, beinahe Sekunde für Sekunde, mehrfach analysiert und dargestellt. Nun haben sie sozusagen „frischen“ Stoff zum Nachdenken bekommen. Geliefert hat ihn Eduard Stehlík vom Militärhistorischen Institut in Prag, der kürzlich aus Großbritannien zurückkehrte.

Eduard Stehlík  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Es kann ziemlich seltsam wirken, wenn etwas Neues über ein 70 Jahre altes und Jahrzehnte lang erforschtes Ereignis auftauche, von dem man die ganze Zeit geglaubt habe, definitiv die Wahrheit zu kennen. Das sagte kürzlich der Militärhistoriker Stehlík im Tschechischen Rundfunk in Bezug auf die bislang etwas stereotype Schilderung, wie das Attentat auf Heydrich durchgeführt worden sei. Es hätte sich nämlich auch anders ereignen können. Seine Hypothesen führt er auf Informationen zurück, die er während seiner Forschungsarbeit in britischen Archiven gefunden hat. Eine ganze Zeitlang glaubte man hierzulande, die Briten wussten nur wenig darüber, dass sich in ihrem Land Soldaten der tschechoslowakischen Auslandsarmee für das Attentat auf Reinhard Heydrich vorbereiteten.

Jan Kubiš und Jozef Gabčík
„In britischen Archiven habe ich zwei oder drei Dokumente gefunden, die mit kurz formulierten Überschriften versehen waren: ´Execution of Heydrich´/´Liquidation of Heydrich´, ´Assassinate Heydrich. Die Dokumente zeugen eindeutig davon, dass man in der SOE (Special Operation Executive), also den britischen Spezialeinsatzkräften, gut über Gabčíks und Kubišs Aufgabe informiert war. Die Briten haben Heydrich hinsichtlich seiner hohen Position in der reichsdeutschen Hierarchie für ein legitimes Ziel gehalten.“

Reinhard Heydrich
Die Ausbildung der für die Operation Antropoid ausgewählten Soldaten Jozef Gabčík und Jan Kubiš war bereits seit Mitte Oktober 1941 in Schottland voll im Gang. Also nur kurz nach Heydrichs Ankunft in Prag. Eduard Stehlík:

„Für mich war es ein Schock zu erfahren, welch große Bedeutung die Briten der Aktion beigemessen haben und sie auch heute noch gewissermaßen als die ihre empfinden. Obwohl die Organisation SOE (Special Operation Executive), die den Tschechoslowaken bei der Vorbereitung der Operation ´Antropoid´ half, während des Zweiten Weltkriegs rund 13 000 Agenten im Einsatz hatte, hält sie bis heute das Attentat auf Heydrich und den in Norwegen organisierten Anschlag auf Norsk Hydro, die Produktionsstätte für Schweres Wasser (27. Februar 1943) für ihre erfolgreichsten Operationen.“

Eric Anthony Sykes
Und mit Recht, meint der Historiker. Die britische Seite habe nicht nur Transportmittel zur Verfügung gestellt, um die Widerstandskämpfer ins Protektorat zu fliegen. Viel Aufmerksamkeit habe sie auch deren Kampfausbildung gewidmet. Hierfür erwähnt Stehlík klangvolle Ausbildernamen:

„Das waren absolute Spitzenleute, die unsere Soldaten in irregulärer Kriegsführung geschult haben. Zum Beispiel Anthony Sykes und William Fairbairn. Ursprünglich waren sie Offiziere in Schanghai, als die Stadt vor allem als Lasterhöhle des Drogenhandels und der Prostitution bekannt war. Dort haben sie unter schweren Bedingungen Erfahrungen gesammelt. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg haben sie eine Reihe von Fachpublikationen verfasst. Zu den Ausbildern der Tschechen gehörten auch Sprengstoffexperten. Einer von ihnen, Cecil Clarc, hat die Bombe hergestellt, die beim Anschlag auf Heydrich verwendet wurde.“

Peter Wilkinson  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Doch nicht alles lief bei der Ausbildung der Tschechen reibungslos, wie Eduard Stehlík im britischen Archiv erfahren hat. Ein fahrendes Auto mit einer Bomben-Attrappe zu treffen sei ihnen schwer gefallen. Die britischen Ausbilder sollen es mit einem Seufzer kommentiert haben: „Die Tschechen spielen halt kein Cricket“:

„Beide Ausbilder, Major Peter Wilkinson und Kapitän Alfgar Hesketh-Prichard waren Cricket-Asse. Prichards Vater war seinerzeit sogar der beste Cricket-Repräsentant Großbritanniens, und auch Wilkinson spielte aktiv Cricket. Die beiden Tschechen wurden also von zwei Profis ausgebildet, die mit jedem Wurf das Ziel trafen, während sie sich damit quälten. Daher war das ´Seufzen´ der Briten nicht ganz fair.“



Heydrichs Schloss in Panenské Břežany | Foto: Archiv von Martin Hakauf
In britischen Archivalien fand Stehlík auch das Szenario für das geplante Attentat, detailliert in einzelnen Schritten erarbeitet: Mit einer Bombenexplosion sollte zunächst das Auto angehalten werden, in dem Heydrich jeden Tag aus Panenské Břežany in sein Büro auf der Prager Burg gefahren wurde. Eine zweite Bombe war für ihn selbst bestimmt. Hätte er überlebt, sollte erst dann eine Pistole zum Einsatz kommen. Das später von der Gestapo verfasste Untersuchungsprotokoll beschreibt den Verlauf des Attentats allerdings in der umgekehrten Reihenfolge. Das bereitet bis heute den tschechischen Historikern Kopfzerbrechen. Fest steht allerdings, dass aus einer mitgeführten Maschinenpistole kein einziger Schuss abgegeben wurde. Sie blieb am Tatort liegen und geriet anschließend in die Hände der Gestapo.

Vojtěch Šustek
Bei der Suche in deutschen Archiven stieß der tschechische Historiker Vojtěch Šustek auf ein Dokument, das bereits früher schon im Archiv der Stadt Prag gefunden wurde. Es war der Schlussbericht über die Ermittlungen der Prager Gestapo vom 25. September 1942, benannt nach ihrem Chef Pannwitz. Gerade dieses Dokument sorgt für Differenzen unter tschechischen Historikern über den Verlauf des Attentats. Eduard Stehlík neigt eher zur Annahme, zunächst sei eine Bombe explodiert. Dafür hat er die folgende Erläuterung:

Heinz Pannwitz
„Der Hauptzeuge, auf dessen Aussagen nicht nur der Pannwitz-Bericht, sondern auch die Hypothesen einiger tschechischer Historiker über den Einsatz der Maschinenpistole basieren, war Heydrichs Chauffeur Heinz Klein. Der hat aber beim Attentat versagt, weil er angeblich auf Befehl seines Vorgesetzten das Auto angehalten hat. Dieser Mann war logischerweise daran interessiert, sich beim Verhör nicht allzu sehr selbst zu belasten.“

Nach Meinung des Historikers hat nämlich Heinz Klein wesentlich dazu beigetragen, dass Heydrich dem Attentat zum Opfer fiel.

„Beim Attentat saß am Lenkrad kein Chauffeur mit Fahrsicherheitstraining. Er hätte, Befehl hin oder her, auf das Gaspedal treten und fliehen müssen. Ein entsprechend geschulter Mann hätte dies gewusst. Dieser hätte auch einen Fußgänger überfahren, um so schnell wie möglich den Ort zu verlassen. Das hat Klein nicht getan. Beim Verhör hatte er behauptet, auf Heydrichs Befehl reagiert zu haben. Falls der Befehl tatsächlich gegeben wurde, war er absolut falsch. Damit hat auch Heydrich einen fatalen Fehler begangen.“

Krankenhaus Bulovka
Acht Tage nach dem Anschlag erlag Reinhard Heydrich im Prager Krankenhaus Bulovka seinen Verletzungen. In Großbritannien wurden inzwischen mehrere Lageberichte ausgearbeitet. Eduard Stehlík:

„Der wichtigste Bericht über das Attentat trägt das Datum vom 30. Mai 1942. Er wurde im Auftrag der britischen Regierung verfasst, die informiert werden wollte, ob jemand von der britischen Seite an dem Anschlag teilgenommen hatte. Die Maschinenpistole der Marke Sten Gun, die Gabčík am Tatort hinterlassen hatte, galt natürlich eindeutig als Hinweis, woher die Attentäter gekommen waren.“

Maschinenpistole der Marke Sten Gun
Aus Großbritannien also. Stehlík erklärt, was es mit dieser Maschinenpistole der Marke Sten Gun auf sich hatte:

„Das war damals eine Neuigkeit. Es war im Prinzip eine einfache, aus wenigen Teilen zusammengeschweißte Schusswaffe. Britische Historiker bezeichnen sie manchmal als ´Traum eines wahnsinnigen Installateurs´ oder aber als ´Traum jedes Finanzministers´. Es war nämlich eine sehr billige Waffe. Sie galt aber nicht als Waffe, die wegen Konstruktionsfehlern extrem oft versagt. Davon zeugt unter anderem, dass während des Zweiten Weltkriegs vier Millionen Sten Gun Maschinenpistolen hergestellt wurden. Verwendet wurden sie von den britischen Streitkräften, Spezialeinheiten, aber auch von Widerstandkämpfern. Zum Beispiel in Frankreich, aber auch in anderen deutsch besetzten Teilen Europas. Bis heute bleibt es ein Geheimnis, warum die Sten Gun beim Attentat auf Heydrich versagt hat.“

Karel Čurda
Nach dem Tod des stellvertretenden Reichsprotektors haben die nationalsozialistischen Machthaber landesweit mit blutiger Gewalt reagiert. Verhaftungen und Hinrichtungen standen auf der Tagesordnung. Die Namen der Opfer waren kontinuierlich aus Lautsprechern auf den Straßen zu hören. Die Orte Lidice und Ležáky wurden dem Erdboden gleichgemacht. Doch auch danach blieb die Fahndung nach den Attentätern ohne Erfolg. Nach drei Wochen meldete sich aber bei der Gestapo in Prag Karel Čurda, der anderthalb Monaten zuvor mit einem in England geschulten Fallschirmjägertrupp im Protektorat ausgesetzt wurde. Er hat das Versteck von insgesamt sieben Kampfgefährten in der Krypta der orthodoxen Kirche Kyril und Method verraten. Nach einem mehrstündigen chancenlosen Kampf begingen die Widerstandskämpfer Selbstmord. Unter ihnen auch Jozef Gabčík und Jan Kubiš.

Reinhard Heydrich mit Karl Hermann Frank
Noch heute fragen sich manche Tschechen, ob es Sinn gemacht hat, den Tod eines Nazi-Generals mit dem hohen Preis von rund 5 000 Menschenleben zu bezahlen. Der Militärhistoriker Eduard Stehlík ist sich darüber im Klaren:

„Heydrich wird von uns Tschechen oft als ein Nazi zweiter Kategorie betrachtet, weil die Bezeichnung seiner Funktion mit dem Attribut ´stellvertretend´ verbunden ist. Die tschechische Sprache ist hier irreführend. Heydrich war kein gewöhnlicher Stellvertreter, sondern ein Angehöriger der obersten Reichsführung. Er war Herr über Leben und Tod vieler Menschen in Europa. Seine Beseitigung war von großer Bedeutung.“