Neues Wasser, alte Wunden
Wieder einmal hält eine Hochwasserkatastrophe die Tschechische Republik in Atem. Über die aktuellen Entwicklungen informieren wir sie laufend in unseren Nachrichten. Die nun folgende Ausgabe unserer Sendereihe "Schauplatz" steht allerdings im Zeichen der dunklen Schatten der Vergangenheit. Denn ein Grund dafür, dass die Tschechen besonders sensibel auf Flutwarnungen reagieren, ist im August 2002 zu suchen - dem Monat der größten Flutkatastrophe, die es hierzulande jemals gab. Mehr dazu von Gerald Schubert:
"Die Langzeitprognosen der Meteorologen sagen derzeit, dass die Zuflussmengen in den Orlik-Stausee in den nächsten Tagen sinken werden. Dank der Auffangkapazität, die der See immer noch hat, können wir den Abfluss in Richtung Prag daher so regeln, dass in der Hauptstadt keine zusätzlichen Probleme zu erwarten sind."
Mehrere Gemeinden Tschechiens hatten bis jetzt weniger Glück und mussten teilweise evakuiert werden. Unschöne Erinnerungen an das Jahr 2002 werden wach: Gebrechliche Menschen, die nur mit Mühe geborgen werden konnten, Rentner, die sich weigerten, ihre gewohnten vier Wände zu verlassen, Familien, die ihr Hab und Gut nicht nur vor dem Wasser, sondern auch vor Plünderern schützen wollten. Vaclav Blaha war damals als Vizechef der Prager Polizei direkt an den Evakuierungen beteiligt:"Die Erinnerungen daran sind sehr unterschiedlich. Ich hatte viele positive Erlebnisse, etwa was die Qualität und Professionalität der Einsatzkräfte betrifft. Aber dann ist da auch noch die Erinnerung an die Verzweiflung in den Augen der Menschen, die wir gezwungen haben, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen."
Premierminister Jiri Paroubek jedoch beruhigt: Niemand müsse sich heute vor Evakuierungen wirklich fürchten:
"Die Bürger sollten auf jeden Fall den Auforderungen der Behörden Folge leisten. Das schlimmste, was passieren kann, ist, wenn die Leute zögern und so lange warten, bis ihre Gemeinde tatsächlich überflutet ist. Wenn es zu Evakuierungsmaßnahmen kommt, müssen die Bürger daher sofort sehen können, dass Polizei- und Militärstreifen vor Ort sind. Und genau das wird in den betroffenen Gebieten auch der Fall sein", sagt Regierungschef Paroubek.Doch die Menschen fürchten sich in erster Linie vor den Wassermassen selbst, der Schock des Jahres 2002 sitzt vielen noch in den Gliedern. Der junge Steuerberater Libor Smejkal gehörte im August 2002 zu den Tausenden Pragern, die ihre Wohnungen verlassen mussten:
"Unsere Wohnung befindet sich zwar etwa 400 Meter von der Moldau entfernt, aber leider im Erdgeschoss. Die Höhe des Wassers hat in der Wohnung 1,50 Meter erreicht. Alles, was darunter war, wurde unwiederbringlich vernichtet."
Libor Smejkals Frau und seine damals sechs Monate alte Tochter zogen nach den ersten Hochwasserwarnungen nach Südböhmen ins Wochenendhaus. Der junge Familienvater selbst blieb noch in der Wohnung, versuchte zu retten, was zu retten ist, und verfolgte mit Nachbarn im Gasthaus die neuesten Entwicklungen. Dann musste auch er weg.Fast eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis Libor Smejkals Wohnung wieder intakt war. Finanzierungsfragen waren nicht das einzige Problem. So konnte mit den Renovierungsarbeiten erst richtig begonnen werden, nachdem die Wände ausgetrocknet waren. Allein das dauerte Monate. Smejkals Familie blieb in Südböhmen. Er selbst wohnte während der Arbeitswoche in Prag, mal bei diesem, mal bei jenem Freund - niemals zu lange, um niemandem zur Last zu fallen, im Rucksack immer die Zahnbürste und Kleidung für fünf Tage. Bis er eines Tages doch wieder in seine Wohnung einziehen konnte:
"Daran erinnere ich mich ganz genau: Es war Ende November 2003. Damals war ich sehr glücklich, dass ich wieder zu Hause bin und in der komplett renovierten Wohnung leben kann."Libor Smejkal ist kein Einzelfall. Der Stadtteil Karlin, in dem er wohnt, hatte nach dem Hochwasser vom August 2002 ein Bild der Verwüstung geboten. Die Wasserspuren an den Fassaden reichten teils bis über das erste Stockwerk der Häuser, anstelle geparkter Autos türmten sich modrige Müllhalden am Straßenrand, stinkender Schlamm wurde aus Kellern gepumpt. Einige Straßenzüge waren wochenlang gesperrt, weil ganze Häuser eingestürzt oder zumindest einsturzgefährdet waren. Doch Karlin ist wieder auferstanden: Der Stadtteil wurde sozusagen generalsaniert, und viele Menschen sind der Ansicht, dass er heute schöner ist als jemals zuvor. Libor Smejkal über das neue Antlitz seines Heimatbezirks:
"Wenn man heute durch Karlin spaziert, etwa von Florenc bis Palmovka, dann findet man dort überall neue Infrastruktur. Die meisten Häuser haben neue Fassaden bekommen, und alte, früher unbenutzte Industriegebäude wurden abgerissen."
Ähnliche Geschichten haben vor knapp vier Jahren Tausende andere Tschechinnen und Tschechen erlebt, eine zweite Katastrophe dieses Ausmaßes will sich niemand vorstellen. Den meisten Menschen dürfte eine solche auch erspart bleiben. Dennoch: In manchen gemeinden sind die Überflutungen diesmal schlimmer als im Jahr 2002. Und die Prognose? Milena Ferebauerova vom Hydrometeorologischen Institut Prag:
"Ab Montag kühlt es wieder ab, und bereits am Dienstag erwarten wir in Gebieten über 800 Metern Seehöhe wieder Schneefälle. Das heißt, dass das Tauwetter in den Bergen bald zu Ende ist, denn dort werden die Temperaturen wieder unter null Grad sinken."
Allerdings: Sollte es in Bergen schneien, dann muss auch dieser neu gefallene Schnee irgendwann mal schmelzen. Hoffentlich zum richtigen Zeitpunkt. Radio Prag wird Sie jedenfalls weiterhin auf dem Laufenden halten.