Nichts ist, wie es war - Über die Folgen historischen Vergessens
Im Radio-Feuilleton macht sich Menno van Riesen Gedanken über die guten, aber auch schlechten Seiten der Erinnerungskultur.
Es war einmal - gegen Ende des Zweiten Weltkrieges - die Geschichte von der Flucht meiner deutschen Familie aus dem mährischen Brünn: Damit er seine Geschichte nicht in einem fort auf diese märchenhafte Weise an die nächsten Generationen weiter tragen muss, hat Hugo Fritsch seine Kindheits-Erinnerungen zwischen zwei Buchdeckel geklemmt. Denn ehe Hugo Fritsch, der einzige Überlebende jener Flucht, sich zu der Veröffentlichung entschloss, hatte er sich zweimal groß verwundern müssen: Einmal darüber, dass seine Kinder in der Schule nichts über die Flucht und Vertreibung aus dem einstigen böhmisch-mährischen Protektorat gelernt hatten, das andere Mal darüber, dass seine Enkelkinder von der weisen Lehrerschaft ebenfalls bar jedweden Wissens über dieses so viel Leid tragende deutsch-tschechische Kapitel aus dem Unterricht entlassen wurden. Nicht auszudenken, was passieren würde, hätte sich Hugo Fritsch nicht zu der Publikation durchgerungen. Oder nein! Gerade die Nichtherausgabe von Büchern und anderen Datenarchiven mit ähnlich brisant besetztem Erinnerungsmaterial überhaupt könnte in Zukunft doch die wunderbare Frucht der Auslöschung tragen: Einstige, störende Unannehmlichkeiten wären ein für alle Mal aus den Köpfen der Menschen einfach herausgestrichen! Die ganze Schwere der mühsamen und undankbaren Vergangenheitsbewältigungen würde für immer im unendlichen Kosmos der Vergessenheit versinken. Wozu eine Erinnerung wie etwa an die Dresdner Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 zum sechzigsten Mal ans Tageslicht zerren, die ohnehin nicht frei von "rechten" Nebenwirkungen - großmedial in Szene gesetzt - ins Auge des Betrachter springt? Allerdings brächte eine omnipräsente Auslöschung einst belastender historischer Gedankengüter vielleicht auch die Gefahr eines exorbitant großen, leider nicht heilbaren Problemfeldes mit sich, welches man getrost mit den Worten Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" bezeichnen könnte: Eben die Schwernis eines unbeschwerten Lebens. Das Unglück eines Lebens ohne gegenseitige Aufrechnung, Neid, Missgunst und Eifersüchteleien. Zu solchen Zeiten werden sich die Menschen zur Unterhaltung vielleicht die vielen Märchen vom bösen Geist der Vergangenheit erzählen. Oder - leider - auch zu dem Entschluss kommen: Wenn es schon nichts Böses mehr in der Welt gibt, dann erfinden wir es eben. Um es eines guten Tages wieder zu vergessen.