Von Südmähren nach Paris: Milan Kundera und seine Beziehung zu Brünn

Milan Kundera

Die Hauptstadt des Kreises Südmähren ist Brno / Brünn, und dort wurde 1929 Milan Kundera geboren. Mehr zu dem Schriftsteller und seinem nicht unkomplizierten Verhältnis zur Heimat in einer weiteren Folge unserer Serie „Entdeckungsreise durch Tschechiens Kreise“.

Milan Kundera verbrachte die erste Hälfte seines Lebens in seiner Heimat, der Tschechoslowakei, und die zweite in Frankreich. Seit 1975 lebte er mit seiner Frau Věra im Exil in Paris, wo er am 11. Juli dieses Jahres auch starb. War er also eher Tscheche oder eher Franzose? Ladislav Nagy – Übersetzer, Literaturkritiker und Assistenzprofessor an der Südböhmischen Universität in České Budějovice / Budweis – beantwortet diese Frage im Interview mit Radio Prag International so:

Milan Kundera | Foto:  ČT24

„Das ist schwer zu sagen. Kundera selbst hätte wohl nicht gern festgelegt, ob er ein Tscheche oder ein Franzose war. Vielleicht hätte er eingewandt, dass man ihn einen Mährer nennen soll. Die Menschen aus Mähren sind in dieser Hinsicht ja eigen. Er hatte mit Sicherheit eine enge Verbindung zu seiner Geburtsstadt Brünn.“

In Brünn wuchs Kundera also auf und machte dort auch sein Abitur. Schon 1948 ging er aber zum Studium nach Prag. Zusammenfassend meint Nagy:

„Brünn hat Kundera zweifellos in seiner Jugend beeinflusst, und dies gilt ganz sicher auch für die dortige Kulturszene. So hat er eine tolle Schrift über den Komponisten Janáček verfasst. Später war es hingegen Prag, das in Kunderas Büchern zum Vorschein kam. Aber die Jahre in Brünn waren prägend – so wie die Heimatstadt es für jeden Heranwachsenden ist.“

Foto: Verlag Hanser

Zunächst Mitglied der Kommunistischen Partei und bekennender Stalinist, positionierte sich Milan Kundera in den 1960er Jahren zunehmend kritisch zum politischen System seines Heimatlandes. Das Buch „Der Scherz“ von 1967 präge eine Ironie, die es vorher bei dem Autor nicht gegeben habe, so der Wissenschaftler:

„Dies ist ein sehr bedeutendes Buch, denn es bezieht sich auf einen wichtigen Teil unserer jüngsten Geschichte. Es berichtet von den Schauprozessen und von Menschen, die dafür bestraft wurden, dass sie schlechte – oder besser: unangebrachte – Witze erzählten. Es gab schon immer Spekulationen, inwieweit Kundera in dem Buch seine eigenen Erfahrungen reflektiert. Inzwischen ist allgemein bekannt, dass er in den frühen 1950er Jahren noch ein begeisterter Unterstützer des kommunistischen Regimes war. Er war ein geschätzter Poet und außerdem der jüngste Schriftsteller, der mit dem Nationalpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.“

Mitte der 1960er Jahre sei Kundera dann aber schon sichtbar desillusioniert gewesen, was letztlich zu seiner Emigration führte, ergänzt Nagy.

Warum nicht ins Exil nach Deutschland?

1975 folgte Milan Kundera dem Ruf als Universitätsdozent nach Frankreich. Eine legitime Frage ist, warum er nicht ins Exil etwa nach Westdeutschland ging. Schließlich war seine Geburtsstadt Brünn stark von der deutschen Lebenskultur geprägt, und Kundera wuchs in einem Stadtviertel auf, das damals noch Königsfeld hieß. Nagy entgegnet:

Milan Kundera | Foto: Youtube / ina.fr

„Kundera war schon in den frühen 1960er Jahren von der französischen Kultur fasziniert. Die damit verbundenen Grundgedanken, die ihre Wurzeln in der Aufklärung und deren Rationalität haben, waren ihm sehr nahe. Dies wird deutlich in den eher abstrakten Novellen, die Kundera am Ende seines Lebens schrieb. Ich würde also sagen, er hatte eine natürliche Neigung zur französischen Kultur.“

Nagy vermutet zudem, dass Kundera in den 1970er Jahren schon besser Französisch sprach als Deutsch, was ihm die Anstellung an der Universität überhaupt erst ermöglichte. Ob der Schriftsteller seine Geburtsstadt nach der Emigration hin und wieder besuchte, sei unklar…

„Es gab immer Gerüchte, dass er den Kontakt zu seinen Freunden in Brünn hielt. Er soll sie auch besucht haben, ohne dies jedoch öffentlich bekanntzugeben. Offiziell hatte Kundera aber alle Verbindungen nach Tschechien gekappt. Ich würde aber sagen, dass dies nicht für seine Freunde galt.“

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins | Foto: Verlag Atlantis

Mittlerweile mit der französischen Staatsbürgerschaft ausgestattet, erlangte der Autor bald Weltruhm. Zu verdanken hatte er dies der Hollywood-Verfilmung seines Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Diese habe Kundera eine breite internationale Leserschaft verschafft, schildert Nagy:

„Allerdings mochten nur sehr wenige Vertreter der Literaturzirkel den Film. Das wundert mich nicht, denn er wird dem Buch nicht gerecht. Aber er machte eine Berühmtheit aus Kundera. Dies lag hauptsächlich am Inhalt, der das Jahr 1968 und die Emigration aus der ČSSR thematisiert. Vor allem in der angelsächsischen Welt wurde Kundera deswegen zum berühmtesten Schriftsteller aus der Tschechoslowakei.“

Rekonstruktion von Kunderas Tschechisch

Verbittert über sein Heimatland, schrieb Milan Kundera seine Bücher nur noch auf Französisch. Erst zum Ende seines Lebens hin erlaubte er die Herausgabe auch auf Tschechisch. Anna Kareninová berichtete in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks, dass der Auftrag der Übersetzung sie sehr bedrückt habe. Denn er habe für sie bedeutet, dass Kundera nicht mehr selbst die Kraft hatte, die eigenen Werke in seine Muttersprache zu übertragen. Die Arbeit am Buch „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ beschreibt Kareninová wie folgt:

Anna Kareninová | Foto: Elena Horálková,  Tschechischer Rundfunk

„Dies war nur teilweise eine Übersetzung. Der Atlantis-Verlag hatte mir die gesammelten Schriften Kunderas in digitaler Version zur Verfügung gestellt – also alles, was der Verlag je herausgegeben hatte. Aus diesen Texten habe ich jeweils die zutreffenden tschechischen Worte herausgesucht und geschaut, wie Kundera sie wann benutzt hat. Darum war das Ganze keine freie Übersetzung, sondern vielmehr eine Rekonstruktion, wie Kunderas Tschechisch klang. Dies ist eine sehr schwierige Disziplin.“

Zudem habe ihr auch Kunderas Frau Věra bei der Suche nach den richtigen Worten ausgeholfen, fährt Übersetzerin Kareninová fort. Das Ehepaar habe nämlich untereinander auch weiterhin Tschechisch gesprochen.

Věra und Milan Kundera | Foto: ČT24

Věra Kunderová organisierte zuletzt auch die Übergabe der privaten Bücher und Materialien ihres Mannes an die Mährische Landesbibliothek und deren Leiter, Tomáš Kubíček. In seiner Geburtsstadt Brünn gibt es inzwischen die Milan-Kundera-Bibliothek. Kubíček sagte bei der Abholung in Paris, wenige Wochen nach Kunderas Tod:

„Ich bewundere Věra Kunderová wirklich für ihre Kraft, mit der sie die Büchersammlung in diesem Moment weggibt. Aber wie sie selbst sagt, kann damit nichts anderes geschehen, als sie an jenen Ort zu bringen, an dem Milan Kundera sie haben wollte – nämlich in seiner eigenen, nach ihm benannten Bibliothek in Brünn.“

Beim Transport war auch Jiří Hnilica dabei, der Leiter des Tschechischen Zentrums in Paris. Er berichtete, wie die Nachricht von Kunderas Tod in Frankreich aufgenommen wurde:

Archivalien Milan Kunderas | Foto:  Mährische Landesbibliothek

„Mich hat sehr berührt, in welchem Maße das Ableben Kunderas eine geschlossene, ehrliche Reaktion hervorgerufen hat, und das quer durch die französischen Medien, Buchläden und Bibliotheken. Sie drückte das Gefühl aus, dass ein großer französischer, weltberühmter und tschechischer Schriftsteller von uns gegangen ist. Kunderas Tod wurde einmütig als ein symbolischer Moment der französischen Kultur bewertet.“

Dieses Zusammenfließen der beiden Nationalitäten in Kunderas Biografie hebt auch Ladislav Nagy hervor. Gefragt, ob Kundera ein französischer Autor war, der zufällig in Brünn geboren wurde, oder vielmehr ein tschechischer Autor, der der Umstände halber auf Französisch schreiben musste, sagt der Wissenschaftler:

Foto: Václav Richter

„Diese Unterscheidung ist nicht unbedingt bedeutungslos, aber sie sagt nicht viel aus. Heute gilt Kundera als globaler Schriftsteller. Inwiefern dies eine Folge dessen ist, dass er ins Englische übersetzt wurde und alle seine Bücher in dieser Weltsprache vorhanden sind, ist eine andere Frage.“

Autoren: Daniela Honigmann , Vít Pohanka , Martin Balucha
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