Kein Blick zurück im Zorn - Hugo Fritsch dokumentiert seine Erinnerungen an die Flucht aus Brünn vor 60 Jahren

Meine Eltern mit dem 1930 geborenen Bruder Gerhard
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Am achten Mai dieses Jahres jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum sechzigsten Mal. Für viele Menschen erfüllte sich mit dem endgültigen Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Regime die lang ersehnte Hoffnung auf Frieden. Doch ein Krieg kennt bekanntlich viele Gesichter. Für andere begann die Sorge um Leib und Leben erst jetzt, oder hatte bereits in den letzten Monaten oder Wochen des Krieges ihren Anfang genommen. Wie etwa bei der Familie von Armin Fritsch, einem tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher Nationalität aus dem mährischen Brünn. Als die russische Front immer näher rückt, beschließt die Familie Richtung Deutschland zu fliehen. Alles lässt sie zurück. Der einzige, der Deutschland lebend erreichen wird, ist der zwölfjährige Hugo Fritsch. Festgehalten hat Hugo Fritsch seine Erinnerungen in seinem Buch "Hugo, das Delegationskind", das mittlerweile sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache erschienen ist. Menno van Riesen hat für die heutige Ausgabe unserer "Begegnungen" das Buch gelesen und sich mit dem Autor unterhalten.

Meine Eltern mit dem 1930 geborenen Bruder Gerhard
Verglichen mit anderen Büchern, die das Schicksal deutscher Vertriebener schildern, macht die Geschichte von Hugo Fritsch eines besonders: Geschrieben ist sie aus der Sicht eines Zwölfjährigen. Denn so alt war Hugo Fritsch, als seine Familie sich 1945 entschloss, die mährische Hauptstadt Brünn zu verlassen. Die Geschichte der Flucht so wiedergeben, wie sie war, nichts aufrechnen, niemanden anklagen: Das beabsichtigte Hugo Fritsch von Anfang an, denn ein 12jähriger wertet nicht - er erlebt, wie Hugo Fritsch betont:

"Der erste Gedanke ist bereits in den 70er Jahren entstanden, als meine Kinder in der Schule fast gar nichts über die Vertreibung gelernt haben. Aber zu der Zeit war es leider fast unmöglich, überhaupt etwas in der damaligen Tschechoslowakei zu recherchieren, und so habe ich nur kurze Aufzeichnungen gemacht und diese Aufzeichnungen dann liegengelassen. Dann, als wiederum meine Enkelkinder in der Schule nichts über die Vertreibung gelernt haben, habe ich endgültig den Entschluss gefasst, für meine Kinder und Enkelkinder die Erinnerungen genau, fast tageweise zu rekonstruieren."

Hugo Fritsch
Hugo Fritsch kommt am 9. Mai 1933 im gutbürgerlichen Brünner "Masarykviertel" zur Welt und wächst wohl behütet auf - zusammen mit Bruder Gerhard und Kapa, seiner tschechischen Großmutter mütterlicherseits. Hugos Vater, Armin Fritsch, steht die Beförderung zum Finanzoberrechnungssekretär kurz bevor. Nach dem Tod des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomas Garrigue Masaryk 1937, entfernt Nachfolger Eduard Benes alle höheren deutschen Beamten aus ihren Ämtern. Im Reichsprotektorat Böhmen Mähren stellen ihn die Nationalsozialisten wieder ein. Als sie jedoch erfahren, dass er jüdischen Geschäftsleuten als Treuhänder zur Seite steht, weisen sie ihm eine unbedeutende Position in der Land- und Forstwirtschaft zu. Gegen Ende des Krieges mehren sich die Angriffe auf Brünn. Vom Westen rücken die Amerikaner heran, vom Süden und Osten die russischen Truppen. Lange ringt die Familie mit der Entscheidung, Brünn zu verlassen, dann endlich meldet Armin Fritsch sie für einen der letzten Flüchtlingszüge an. Hugo Fritsch erinnert sich:

"Jedenfalls war die Sache sehr schwierig in meiner Familie, denn mein Vater hatte einige Wochen vorher eine schwere Gürtelrose. Auf der anderen Seite ist mein jüngster Bruder im Februar auf die Welt gekommen, zur einer Zeit, als mein Vater krank war, und man konnte erst, als er wieder genesen war, überhaupt nachdenken, was die Familie unternehmen sollte. Dazu kam noch, dass sein deutscher Chef geflohen ist so dass er sich nun um das Büro kümmern sollte. Und all das kam so zusammen, dass wenig Zeit zum Nachdenken in der Familie übrig geblieben ist."

Brünn: Der Umsturz
Am Abend des 18. April 1945 beginnt mit unbekanntem Ziel die Odyssee, die Hugo Fritsch niemals aus seinem Gedächtnis löschen kann. Minutiös schildert er, wie feindliche Flugzeug-Bomber den Zug beschießen, der irgendwann mitten in der Nacht im Bahnhof des kleinen Städtchens Blatna endgültig zum Stehen kommt. In einer Schule, die zum Lager umfunktioniert wird, erleben die Flüchtlinge das offizielle Kriegsende, sehen, wie die Deutschen gehen, die Amerikaner kommen, und die Tschechen die Lagerleitung übernehmen. Hugo Fritsch erklärt, wie ihm damals zu Mute war: "Das Ausmaß ist Ihnen als zwölfjähriges Kind nicht bewusst und deswegen nehmen Sie das alles eben auf wie ein Kind! Wie ein Kind, das versucht, das Beste aus der Zeit zu machen. Mit fünfzehn Jahren verstehen Sie mehr."

Eines Tages jagen die Tschechen die Flüchtlinge ins russische Besatzungsgebiet hinein. Eingepfercht in Kohlewaggons erreichen sie ihre nächste Etappe: Prag, genauer den Bahnhof Smichov. Bei sengender Hitze treiben die Aufseher die Menschen zu Fuß eine Anhöhe hinauf, bis zum großen Stadion von Strahov. Den "Todesmarsch" nennt Hugo Fritsch diesen Weg, auf dem der Vater und Kapa am Ende des Zuges zurückbleiben. Eindringlich erlebt Hugo Fritsch die Hasstiraden der Passanten am Straßenrand:

"Die Prager Bevölkerung war einfach sehr stark aufgehetzt. In Prag war natürlich die Naziherrschaft sehr viel stärker als auf dem Lande oder etwa auch in Mähren. Dort war die Bevölkerung nicht so stark aufgehetzt. Ich besitze mehrere Dokumentationen, die diesen Marsch zum Stadion bestätigen. Die Atmosphäre können Sie auch in tschechischen Geschichtsbüchern nachlesen."

Einen Monat lang harren die etwa zehntausend Flüchtlinge im Stadion aus, täglich sterben bis zu zwanzig Menschen. Dazu ist weiter ungewiss, was aus dem Vater und Kapa geworden ist. Ein ausländischer Beobachter berichtet dem IRK die Zustände im Stadion:

"Die Gefangenen hausen auf den Rängen am Boden, ohne Strohsäcke, und haben keinerlei Schutz gegen schlechtes Wetter und Kälte."

Wer noch arbeitsfähig ist, wird zu Zwangsarbeiten aussortiert. Hugo wird mit seiner Mutter, Gerhard und dem kleinen Bruder Willi in die Nähe der Stadt Kralupy zu Erntearbeiten geschickt. In der Nacht nach der Ankunft auf dem Staatsgut Strachow stirbt Willi. Zeit zum Trauern bleibt nicht, denn schon wartet das Übergangslager Hagibor am Stadtrand Prags, wo es endlich zum Wiedersehen mit dem Vater und Kapa kommt. Dann geht es in Viehwaggons weiter an den Ort, den Hugo Fritsch das "Todeslager" nennt: Prosecnice südlich von Prag im Sazavatal. Der Gedanke, irgendwann die Heimat Brünn wieder zu sehen, rückt in unendliche Ferne, wie Hugo Fritsch erzählt:

Die amtliche Todesurkunde meiner Eltern  (1)
"Im letzten Lager ist dann sämtliche Hoffnung verloren gegangen. Wir hatten eine räumliche Trennung voneinander. Mein Vater war in einer Männerbaracke mit meinem fünfzehnjährigen Bruder. Ich war mit der Mutter in der Familienbaracke. Und die Großmutter war wieder in einer einzelnen Frauenbaracke. Zu ihr bin ich erst wieder gekommen, als sie kurz vor ihrem Tod in der Krankenbaracke war.

Die Krankenfälle im Lager häufen sich. Täglich sterben bis zu zehn Flüchtlinge. Der Tod der einzelnen Familienmitglieder liest sich wie eine protokollarische Abfolge unabänderlicher Ereignisse. Zuerst stirbt Gerhard, dann Kapa, ihr folgt die Mutter und eine Woche später auch der Vater. Hugo Fritsch erzählt, wie er als Zwölfjähriger diese überbordenden Schicksalsschläge erfuhr:

Die amtliche Todesurkunde meiner Eltern  (2)
"Anfangs wäre mir fast der Mut verloren gegangen. Dann hatte ich das Glück, persönlicher Laufbursche vom Lagerleiter zu werden! Dadurch hatte ich freien Zugang zum gesamten Lager und später auch nach außen, und dieser freie Zugang gibt Ihnen einen Lebensmut, den Sie sich nicht denken können. Wenn es ums Überleben geht, wachsen Sie selbst als zwölfjähriger Bub weit über Ihr Alter hinaus."

Internationales Rotes Kreuz
Ende Juli 1946 holt plötzlich die Prager Delegation des Internationalen Roten Kreuzes Hugo aus dem Lager heraus - auf nachdrückliches Betreiben des Bruders von Kapa, der von dem Tod der Familie erfahren hatte. Zwei Jahre verbringt Hugo Fritsch in einem Prager Kinderheim. Dann erhält er eine Auslandsgenehmigung für Deutschland. Am 8. September 1948 schließen ihn Onkel Karl und Tante Elfe im bayerischen Dingolfing in ihre Arme. Allerdings ist Hugo anfangs über seine "neue Heimat" enttäuscht:

"Es war mir hundsmiserabel zu Mute, denn ich kam aus einem Heim, wo ich sehr gut zu Essen bekommen hatte. Und jetzt kam ich nach Niederbayern, und wie ich in dem Buch schreibe, hat mir die Tante zur Begrüßung nur einen Maiskuchen backen können, weil sie nicht einmal genug Mehl hatte. Es gab ja damals noch Lebensmittelkarten."

Mein Vermögen bei der Ausreise
Danach gelingt es Hugo Fritsch, das Abitur und eine Lehre zum Bankkaufmann zu machen. Jahre später liest er das erste fertige Manuskript seiner Erinnerungen an die Vertreibung zunächst der Landsmannschaft München vor. Hugo Fritsch blickt zurück:

"Die Lesung hat eine Stunde gedauert, und die Resonanz war eineinhalb Stunden Diskussion über die Lesung, so dass ich selbst sehr erstaunt war, dass die Leute so viele Fragen hatten. Das war etwas, was mir erst den Mut gegeben hat, mein Buch selbst herauszugeben, nachdem zahlreiche Verlage abgesagt hatten. Erst eine kleine Auflage, dann eine größere, und zum Schluss die letzte Auflage mit 2000 Stück."

Mein Vermögen bei der Ausreise
Allerdings trägt die neue Auflage nicht wie die vorherigen beiden den Titel "Hugo, das Delegationskind", sondern: "Als Benes meine Familie zerstörte". Hugo Fritsch erklärt, wie es dazu kam: "Diesen Titel wollte ich eigentlich nicht akzeptieren. Die dritte Auflage hatte ich einem Verlag übergeben, der zwar mein Manuskript angenommen, mir jedoch den Titel diktiert hat. Leider ist der Verlag später in Insolvenz gegangen, und ich habe die Auflage zurückkaufen müssen."

Hugo Fritsch will nicht provozieren, er will helfen zu versöhnen - gibt Vorträge, und geht in Schulen. Rege unterhält er viele Kontakte auch nach Tschechien, wie er erzählt:

"Und durch die tschechische Ausgabe meines Buches haben sich natürlich auch sehr viele Kontakte ergeben. Demnächst, am 15. und 16. April veranstaltet eine evangelische Gesellschaft zur Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen eine Tagung in Prag. Ich bin als Referent eingeladen, und werde in tschechischer Sprache aus dem tschechischen Buch lesen."