Auf den Spuren der Deutschen in Pilsen
Vor etwa 100 Jahren waren rund zehn Prozent der Bewohner von Pilsen Deutsche. Über die Spuren der deutschen Minderheit in der Stadt hat Radio Prag International mit dem Hochschuldozenten Christoph Mauerer gesprochen.
Herr Mauerer, wie groß war die deutsche Minderheit in Pilsen am Anfang des 20. Jahrhunderts und gab es damals mehrere Bildungsinstitutionen für die deutschsprachige Bevölkerung?
„Ungefähr zehn Prozent der Bewohner von Pilsen waren Deutsche. Im Vergleich zu den 90 Prozent tschechischer Bevölkerung war das natürlich relativ wenig. Aber die Pilsner Deutschen hatten viele Kulturinstitutionen und ein reiches Schulwesen. Es gab fünf deutsche Mittelschulen, unter anderem ein Gymnasium, eine Realschule, eine Handelsakademie, eine Staatsgewerbeschule sowie ein Mädchenlyzeum. Zudem gab es noch viele deutsche Vereine, die sich meistens im deutschen Haus in der Goethegasse trafen. Und auch ein deutsches Theater gab es.“
Kann man einige dieser ehemaligen deutschen Bildungsinstitutionen noch heute sehen oder besuchen?
„Besuchen kann man das Gebäude, in dem sich früher das deutsche Gymnasium befand. Denn dort hat heute die wissenschaftliche Bibliothek des Pilsner Bezirks ihren Sitz, die Studijní a vědecká knihovna Plzeňského kraje. Das deutsche Haus und das deutsche Theater stehen hingegen nicht mehr, sie sind 1969 abgerissen worden. Heute steht dort ein modernes Gebäude. Aber wenn man durch die Straßen geht, kann man hier und da durchaus noch ein paar kleine deutsche Spuren finden.“
Wer unterrichtete an dem deutschen Gymnasium? Waren das Deutsche oder auch Tschechen?
„Es waren vor allem Lehrer deutscher Nationalität. Es handelte sich um ein kirchliches
Gymnasium, an dem die Prämonstratenser-Mönche aus Tepl im Egerland unterrichteten. Die meisten Angehörigen des Ordens waren Deutsche. Aber es gab auch ein paar Ordensleute tschechischer Nationalität, unter anderem Josef František Smetana, der ältere Cousin Bedřich Smetanas, sowie noch Josef Vojtěch Sedláček. Das waren dann sehr bedeutende Persönlichkeiten der tschechischen nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert.“
Smetana hat ein Denkmal dort, gegenüber dem Gebäude…
„Beide Smetanas, also sowohl Josef František Smetana, der Autor erster tschechischer Lehrbücher der Mathematik und der Physik war, als auch sein jüngerer Cousin Bedřich Smetana haben in den Smetanovy sady, im Smetana-Park, mittlerweile ein Denkmal. Und es gibt auch jedes Jahr ein großes Smetana-Festival. Wobei es auch sehr interessant ist, dass Bedřich Smetana oder auch Friedrich Smetana, wie er sich selber in frühen Jahren oft nannte, in seiner Jugendzeit sein Tagebuch auf Deutsch geschrieben hat. Erst im Laufe seines Lebens ist er zur tschechischen Sprache gewechselt. Das ist mittlerweile auch schon sehr gut erforscht.“
Wenn wir zum Beispiel vom Platz der Republik Richtung Kathedrale gehen, wo sind dort Spuren der deutschen Minderheit zu finden?
„Man kann sie auch in der Kathedrale selber finden. Es gibt zum Beispiel ein buntes Glasfenster vom Bürgerlichen Bräuhaus, also der Pilsner Urquell Brauerei. Das Fenster wurde 1892 in tschechischer und deutscher Sprache beschriftet. Man kann auf diesem Glasfenster Getreide und Hopfen sehen. Sonst im Stadtbild gibt es ein paar kleinere Spuren, zum Beispiel auch Statuen, wo dann etwa ,Ludwig Wildt Pilsen‘ draufsteht. Andere Spuren gibt es zum Beispiel, wenn man an den wunderschönen Hausportalen emporschaut. Auch das ist sehr lohnenswert in Pilsen. Zudem gibt es ein paar Häuser, an denen zum Beispiel ,N‘ steht, und das steht eben für ,Nummer‘.“
Im Stadtzentrum befindet sich auch ein Geschäft, auf dem ,Tajč‘ geschrieben steht. Wer war das?
„Das war eine tschechische Familie, die ein Juweliergeschäft hatte, schon in der Ersten Republik, vermutlich schon seit dem 19. Jahrhundert. Dieser Juwelier hat regelmäßig im Pilsner Tagblatt inseriert. Man findet man dort zahlreiche dieser Inserate, und natürlich ist auch dieser Nachname, Tajč, sehr interessant. Denn es ist einfach die bayerische Lautung von ,Deutsch‘ – ,Teitsch‘. Es handelt sich also um einen bayerischen Germanismus im Tschechischen, der dann zu einem Nachnamen geworden ist.“
Und den Laden gibt es wahrscheinlich bis heute?
„Den gibt es bis heute. Er wird aber nicht mehr von der Familie Tajč geführt, sondern sie haben das Geschäft mittlerweile an Freunde übergeben. Den traditionsreichen Namen hat dieser Unternehmer aber beibehalten.“
Gab es im Stadtzentrum Straßen, die deutsche Namen trugen oder nach deutschen Persönlichkeiten benannt wurden?
„Da gab es einige. Sehr interessant ist zum Beispiel die Goethegasse (Goethova). Das ist die Straße, in der eben früher das Deutsche Haus und das Deutsche Theater waren. Diese Gasse ist 1945 in Gorkého, also nach dem russischen Dichter Gorki umbenannt worden, aber nach 1989 ist sie dann eben wieder in Goethova zurück umbenannt worden. Sonst gab es zum Beispiel eine Bayerische Gasse und eine Sachsengasse, diese Namen gibt es heute nicht mehr. Die Sachsengasse ist stattdessen die Rooseveltova und die Bayerische Gasse, die an der Zugstrecke in Richtung Bayern, in Richtung Furth im Wald, Klattau und Bayerisch Eisenstein liegt, die heißt heute einfach U Trati, also ‚An der Zugstrecke‘. Die Sachsenbrücke, Saský most, heißt heute zwar offiziell Rooseveltův most. Aber im Volksmund, unter der normalen Bevölkerung, wird sie eigentlich immer noch ‚Saský most‘ genannt.“
Im Stadtzentrum steht das prunkvolle Haus Měšťanská beseda, in dem früher der gleichnamige tschechische Verein zusammenkam. Wo befand sich das deutsche Pendant?
„Es gab seit 1869 auch ein Deutsches Haus, in dem sich die deutschen Vereine trafen. Es lag am Radbuza-Ufer und ist heutzutage nicht mehr existent. Es ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgerissen worden. Das Deutsche Haus und das Deutsche Theater waren ein Komplex. Dort hat sich das Vereins- und Kulturleben der Pilsner deutschen Minderheit abgespielt.“
Gab es viele deutsche Vereine in Pilsen?
„Ja, wenn man es prozentual ausrechnet, dann waren von den insgesamt 428 Vereinen, die 1921 überhaupt in Pilsen nach dem damaligen Adressbuch existierten, 16,6 Prozent deutsche Vereine. Wobei es nach der Volkszählung 9,3 Prozent deutsche Pilsner gab. Das heißt, die deutsche Minderheit hat besonders viele Vereine gegründet und betrieben. Und damit konnten sie also auch als eine kleine Minderheit weiterhin ihre Identität hier pflegen.“
Wie war das mit den jüdischen Vereinen?
„Es gab auch mehrere jüdische Vereine. Die hießen meistens zum Beispiel Israelitischer Wohlfahrtsverein oder ähnlich. Und in dem Adressbuch von 1921, vom Stadtbeamten Jaroslav Schiebel herausgegeben, wurden die meisten dieser jüdischen Vereine unter ,spolky německé‘, also unter den deutschen Vereinen eingeordnet oder kategorisiert. Der Grund war wohl, dass die meisten der Pilsner Juden deutscher Sprache waren und meistens auch die deutschen Schulen hier in Pilsen besuchten. In der Volkszählung von 1921 gab es erstmals überhaupt die Möglichkeit, eine jüdische Nationalität anzugeben. Das haben aber lediglich ungefähr 700 Pilsner Juden gemacht. Wobei aber circa 3000 Juden in Pilsen lebten. Die meisten haben sich wohl als Deutsche identifiziert.“
Wie war das Schicksal der Pilsner jüdischen Gemeinde?
„Die allermeisten sind leider im Holocaust von den Nationalsozialisten ermordet worden. Es gibt im Ausland welche, die entweder noch vorher emigrieren konnten oder den Holocaust überlebt haben. Ich habe zum Beispiel im Mies-Pilsner-Heimatbrief des Heimatkreises Mies-Pilsen, der in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden ist, herausgefunden, dass ein Pilsner Jude aus Amerika einen Brief geschickt hat. Darin schreibt er, dass er weiterhin gerne mit seinen früheren Landsleuten in Kontakt bleiben möchte. Angesichts dessen, was in deutschem Namen im Zweiten Weltkrieg, im Holocaust, geschehen ist, hat mich das dann doch sehr überrascht.“
Führen Sie, wenn jemand den Wunsch äußert, die Besucher von Pilsen auf den Spuren von Deutschen?
„Ja, das mache ich sehr gerne. Man könnte es natürlich auch mit unterschiedlichsten thematischen Schwerpunkten machen, da gäbe es viele Möglichkeiten. Und auf jeden Fall kann ich die Hörer von Radio Prag schon mal für den Sommer einladen: Vom 7. bis 10. August dieses Jahres werden die großen deutsch-tschechischen Begegnungstage der Ackermann-Gemeinde hier in Pilsen stattfinden. Da werde ich dann auch Spaziergänge auf tschechisch-deutsch-jüdischen Spuren anbieten.“