Reliquien und Gegenwartskunst: Der Prager Domschatz und andere „Fragmente der Erinnerung“ in Dresden
Zum ersten Mal überhaupt wird derzeit der Prager Domschatz außerhalb der Stadt an der Moldau ausgestellt – in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. 125 beeindruckende Kunstwerke, darunter zahlreiche Reliquiare, wurden für die Ausstellung „Fragmente der Erinnerung“ in die sächsische Landeshauptstadt gebracht. In der Kunsthalle im Lipsiusbau wird der mittelalterliche und frühneuzeitliche Schatz im Dialog mit drei zeitgenössischen Künstlern gezeigt. Darunter ist auch der tschechische Fotograf Josef Koudelka.
„In der Mitte befindet sich Holz vom Heiligen Kreuz, unten zwei Dornen der Dornenkrone Christi und links ein Nagel, mit dem er angeblich an das Kreuz geschlagen wurde.“
Jiří Fajt steht vor dem goldenen Reliquienkreuz aus Böhmen. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert, anfertigen ließ es einst Kaiser Karl IV. Das Kreuz ist rund einen halben Meter hoch. Neben den Reliquien ist es mit Gemmen besetzt und mit Edelsteinen versehen – Saphire, Aquamarine, Rubine.
Das sogenannte Krönungskreuz ist nur eines von 125 Exponaten aus dem Schatz des Prager Veitsdoms, die derzeit in Dresden ausgestellt werden. „Fragmente der Erinnerung“ heißt die Schau, die in der Kunsthalle im Lipsiusbau der Staatlichen Kunstsammlungen zu sehen ist. Von welch großer Bedeutung die Ausstellung ist, zeigt auch, dass sie am Freitag vergangener Woche von niemand geringerem als Tschechiens Staatspräsident Petr Pavel und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) eröffnet wurde. Zum ersten Mal überhaupt werden die Objekte aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit außerhalb ihres Bestimmungsortes ausgestellt. Und auch in Prag waren die Schmuckstücke zuletzt im Tresor verschwunden.
„Wir sind extrem dankbar, dass dieses Projekt möglich war – auch aufgrund der so toll gewachsenen Beziehungen zu unserem Nachbarland Tschechien. Ich betone das immer wieder gern: Prag ist von Dresden aus näher als Berlin“, so Marion Ackermann, Generaldirektorin der Kunstsammlungen, bei der Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung.
Das Schwert des Heiligen Wenzel
Die Objekte, die man von Prag nach Dresden transportiert hat, stellen einen beachtlichen Teil des gesamten Schatzes dar. Dazu gehören etwa die Schädel der vier heiligen Patrone Böhmens in ihren Büsten. Und den Heiligen Wenzel, dessen silbernes Antlitz teils vergoldet und mit Amethysten besetzt ist, hat Jiří Fajt so aufgestellt, dass er auf seine eigenen Reliquien blickt.
„In der Mitte sieht man den Helm Wenzels, daneben sein Schwert. Das ist ein Bestandteil der Krönungsinsignien. Denn nach der Krönung wurde früher der König mit diesem Schwert zum Ritter geschlagen.“
Unmittelbar neben dem Wenzelsschwert befindet sich ein Kettenhemd, das der Heilige höchstwahrscheinlich selbst getragen habe, wie Fajt betont. Musste der Kurator viel Überzeugungsarbeit bei den Kirchenvertreten leisten, um den Schatz des Veitsdoms zu entleihen? „Eigentlich nicht wirklich“, sagt Fajt im Interview für Radio Prag International.
„Ich pflege rege Kontakte zu einigen Leuten aus dem Erzbischöflichen Palais und dem Metropolitankapitel von St. Veit, die beide Mitveranstalter dieses Projektes sind. Gemeinsam ist es uns gelungen, diesen Schatz nach Dresden zu bringen.“
Dass Kunst aus Prag in der sächsischen Landeshauptstadt gezeigt wird, ist dabei mittlerweile keine Seltenheit mehr. So fand zuletzt die „Tschechische Saison“ in den Staatlichen Kunstsammlungen statt. Und auch in der Zeit, als Jiří Fajt noch Direktor der Prager Nationalgalerie war, kooperierte er bereits mit seiner Dresdner Kollegin Marion Ackermann.
Dialog mit zeitgenössischen Künstlern
Für die Ausstellung „Fragmente der Erinnerung“ hat der Kurator nicht nur den Prager Domschatz nach Dresden geholt. Denn die mittelalterlichen Kunstwerke werden in den Dialog gesetzt mit den Arbeiten von drei zeitgenössischen Künstlern. Wie ist Jiří Fajt, der 2019 unter umstrittenen Umständen von seinem Posten als Direktor der Nationalgalerie abberufen wurde, auf diese Idee gekommen?
„Ich habe in der Vergangenheit schon viele Ausstellung mit älteren Kunstwerken gemacht. Irgendwie war ich aber ein bisschen bedient von der klassischen Dramaturgie. Während meiner Zeit an der Nationalgalerie in Prag hatte ich dann die Gelegenheit, etwa mit Ai Weiwei zusammenzuarbeiten oder mit Gerhard Richter. Mir hat das total Spaß gemacht, ich habe dadurch eine neue Welt entdeckt. Seitdem versuche ich, immer den Dialog herzustellen zwischen dem Alten und dem Neuen.“
Wenngleich Fajt gesteht, dass es nicht sicher sei, ob dieses Konzept aufgehen wird, erhofft sich der Kurator von dem Zugang auch ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit.
„Altes und Zeitgenössisches haben jeweils ein unterschiedliches Publikum. Wenn man diese Sachen zusammenbringt, kann man auch die jeweils andere Zielgruppe ansprechen.“
Industriebrachen und künstlerische Interventionen
Die drei Künstler, die Fajt mit ins Boot geholt hat, setzen sich in ihren Arbeiten jeder auf seine ganz eigene Weise mit den Themengebieten Fragment und Erinnerung auseinander. Der deutsche Filmemacher Julian Rosefeldt ist mit einer audiovisuellen Installation namens „In the Land of Drought“ vertreten, die ursprünglich für die Ruhrtriennale 2015 entstand. Zu beruhigenden, atmosphärischen Klängen bewegen sich vermeintliche Wissenschaftler in weißen Ganzkörperanzügen durch antike Stätten und finden sich anschließend im Ruhrgebiet zusammen. Durchweg mit der Drohne gefilmt, sieht man, wie die weißen Punkte in Zeitlupe durch die Brachen der Industrialisierung waten.
Auch der Keramiker Edmund de Waal setzt sich in seinen in Dresden gezeigten Arbeiten mit der Vergangenheit auseinander. Sein monumentales Werk „Irrkunst“ – ein schwarzer Block mit Gucklöchern und Objekten darin –, das an den Philosophen Walter Benjamin erinnert, nimmt einen Großteil des zentralen Raumes des Lipsiusbaus ein. Zudem finden sich verteilt in der gesamten Ausstellung kleinere künstlerische Interventionen, mit denen der Brite die ausgestellten Stücke des Prager Domschatzes kommentiert. Beschriftet sind diese Werke bewusst nicht, denn sie sollen den Besucher durchaus irritieren, meint Fajt. So steht etwa ein Schälchen mit zerbrochenen Porzellanteilen neben den mittelalterlichen Statuen und Gemälden aus Prag. In einem anderen Raum hat de Waal gegenüber einer Staurothek aus dem Jahr 1266 flüssiges Porzellan und Goldpartikel an der Wand angebracht. Beschrieben ist die Fläche, die die gleichen Maße wie das mittelalterliche Kunstwerk hat, mit einem Text, in dem es um die Relevanz von Fragmenten geht. Denn, wie de Waal schildert, spielt dieser Aspekt in seiner Arbeit eine große Rolle:
„Die Fragmentierung der Welt zieht mich an. In meinen Büchern und Kunstwerken suche ich nach diesen Splittern der Welt, die überlebt haben, deren Kontext aber bereits verschwunden ist. Mit meinen Arbeiten versuche ich, diese Fragmente festzuhalten und einen Ort der Erinnerung für sie zu schaffen.“
Die bewegte Geschichte eines Meißner Porzellanservice
Besonders deutlich wird dies in den Werken de Waals, die im Obergeschoss des Lipsiusbaus gezeigt werden. Zu sehen ist dort ein Meißner Porzellanservice, das einst der Familie um Gustav von Klemperer gehörte – einem in Prag geborenen Dresdner Bankier. 1938 musste die jüdische Familie fliehen, und die Kunstsammlung von Klemperers wurde von den Nazis beschlagnahmt. Während der Bombardierung Dresdens 1945 wurden die Stücke stark beschädigt. Nach der Wende haben Klemperers Nachfahren die Sammlung zurückerhalten. Einen Teil schenkten sie der Stadt Dresden, einen anderen Teil verkauften sie…
„Es war wohl ziemlich verrückt, aber ich habe dieses Service bei der Auktion gekauft – ohne meiner Frau davon zu erzählen. Eine japanische Künstlerin (Maiko Tsutsumi, Anm. d. Red.) hat dann über mehrere Jahre hinweg die Scherben unter Anwendung der Kintsugi-Technik mit Gold und Lack wieder miteinander verbunden. In den Ausstellungsräumen sieht man nun die Meißner Teller mit den goldenen Linien, die sich da befinden, wo vorher die Bruchstellen waren.“
Dass das Service nun im Lipsiusbau gezeigt werde, der bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg selbst stark beschädigt und später wiederaufgebaut wurde, sei für ihn besonders bewegend, so Edmund de Waal.
Fotografien von Josef Koudelka
Den Fragen von Erinnerung und Fragmentierung widmet sich Jiří Fajt auch in einem weiteren Teil der Ausstellung. So wurde die Privatbibliothek des in Südmähren geborenen Mittelalterhistorikers Franz Machilek nach Dresden gebracht. Machilek leitete lange Zeit das Staatsarchiv Bamberg, 2021 verstarb er. Wie Fajt betont, seien seine Bücher ausdrücklich dafür bestimmt, angefasst und gelesen zu werden – auch die historischen, in ihren dicken, dunklen Einbänden, die ganz oben auf den Regalbrettern stehen.
Den Bogen zu Religion und Geschichte spannt das Werk des tschechischen Fotografen Josef Koudelka. Vertreten ist er im Lipsiusbau mit seinen Aufnahmen aus Israel und Palästina, die unter dem Titel „Wall“ stehen. Beim Presserundgang gab sich der mittlerweile 86-jährige Starfotograf wortkarg… Er werde keine Vorträge halten, so Koudelka, der mit seinen Fotografien von der Niederschlagung des Prager Frühlings weltweit Berühmtheit erlangte.
Jiří Fajt setzt die schwarz-weißen, großformatigen Aufnahmen in den Kontext. Zwischen 2008 und 2012 seien die Bilder entstanden, sagt er. Koudelka war damals Mitglied eines Gruppenprojektes unter dem Motto „This Place“. Der Initiator, Frédéric Brenner, trommelte damals einige der weltweit anerkanntesten Fotografen zusammen, die über einen Zeitraum hinweg Eindrücke aus Israel und dem Westjordanland sammeln sollten. Koudelka entschied sich bei seinen Reisen in den Nahen Osten dafür, die Wand, die die beiden Welten – Israel und Palästina – trennt, fotografisch festzuhalten. Die Entscheidung, diese Bilder nun in Dresden zu zeigen, sei bereits vor dem Überfall der Hamas auf Israel gefallen, erläutert Kunsthistoriker Fajt:
„Mir war es wichtig, durch eine zeitgenössische Position auch gewissermaßen eine politische Botschaft einzubringen. Ich kenne Josef Koudelka seit Langem und bewundere sein Werk – und ich weiß, was ihm die Arbeit an diesem Projekt bedeutet hat.“
Darüber hinaus habe es noch einen weiteren Grund gegeben, die Bilder von Koudelka auszustellen, meint Fajt. Denn viele der Reliquiare, die zum Prager Domschatz gehören, stammen aus eben der Gegend, die der Fotograf mit seinen Bildern eingefangen hat.
Die Ausstellung „Fragmente der Erinnerung – Der Schatz des Prager Veitsdoms im Dialog mit Edmund de Waal, Josef Koudelka und Julian Rosefeldt“ ist noch bis zum 8. September zu sehen. Geöffnet ist sie täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr. Der reguläre Eintrittspreis beträgt acht Euro, ermäßigte Tickets gibt es für sechs Euro.