Kollektives Gedächtnis in Mittel- und Osteuropa nach 1990
"Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis in Osteuropa nach 1990" - - so das Motto einer Veranstaltung am vergangenen Wochenende in Brno/Brünn, die der Auseinandersetzung der ehemaligen Ostblock-Staaten mit der eigenen Vergangenheit gewidmet war. Organisiert wurde sie von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut, Außenstelle Brno/Brünn. Meine Kollegein Silja Schultheis hat an der Veranstaltung teilgenommen.
Nach dem Umsturz von 1989 trat in den ehemals kommunistischen Staaten schnell die Bewertung der eigenen Vergangenheit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In diesem Zusammenhang machte ein Schlagwort die Runde, das der tschechische Präsident Vaclav Havel geprägt hatte. Rudolf Jaworski, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Kiel, begann damit sein vergleichendes Referat über osteuropäische Vergangenheitsdiskurse:
"Das Schlagwort von der Rückkehr der Geschichte, die Vorstellung, dass die Geschichte während des Kommunismus stillgestanden habe..."
Jaworski polemisierte in seinem Vortrag mit dieser Vorstellung, da seiner Meinung nach die Geschichte auch während der kommunistischen Ära immer da gewesen sei. Nach dem Umbruch von 1989 kam es jedoch zu ihrer radikalen Neubewertung. Mit am stärksten - so Jaworski - sei dieser Bruch in Tschechien ausgefallen:
"Ich würde hier, etwa im Unterschied zu Ungarn oder auch zu Polen, doch behaupten, dass sowohl die Geschichtsschreibung als auch die historisch-politischen Debatten der Öffentlichkeiten doch sehr geknebelt gewesen sind in der kommunistischen Ära und eigentlich bis zum bitteren Ende des Kommunismus. Und dass hier natürlich der Neuanfang besonders drastisch in Erscheinung tritt. Und das haben auch die Diskussionen in der Tagung gezeigt, dass er auch besonders schwierig ist und es hier auch Konfusionen gibt."
Dabei dürfe man eines jedoch nicht vergessen: den zeitlichen Rahmen, in dem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfindet:
"Meines Erachtens überfordert man generell jetzt alle Transformationsländer, dass sie jetzt auf einmal, in kürzester Zeit, d.h. 12 Jahre nach der Wende schon eine komplette Aufarbeitung ihrer Vergangenheit leisten sollen."
In der Tschechischen Republik hat den letzten und entscheidenden Schritt hin zu einer umfassenden Aufarbeitung in der vergangenen Woche Präsident Havel getan, indem er das Gesetz über den vollständigen Zugang zu den Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes unterzeichnete. Damit prescht die Tschechische Republik, was die öffentliche Zugänglichkeit der Akten anbelangt, allen anderen Staaten klar davon. Welche Folgen das Inkrafttreten dieses Gesetzes für den Vergangenheitsdiskurs hierzulande haben könnte, fragte ich den Historiker Jan Pauer von der Forschungsstelle Osteuropas in Bremen:
"Also, ich vermute, dass erst einmal irgendwelche Klagen losgehen vor dem Verfassungsgericht, das ist absehbar. Zweitens werden sicherlich Forscher oder Journalisten, die irgendwelche Verdachtsmomente haben, anfangen, bestimmte Fälle an die Öffentlichkeit zu bringen. Es kann auch dazu kommen, dass Gleichgültigkeit herrschen wird in weiten Teilen der Bevölkerung, oder eine Art Voyeurismus einsetzt. Das vermag ich nicht einzuschätzen, alle diese Möglichkeiten bieten sich an als Alternativen."