Tourismus nach der Hochwasserkatastrophe
Eine goldene Regel des Tourismus besagt: Dort, wo Spendengelder hinfließen, dort stagniert der Fremdenverkehr. In Tschechien, wie auch in dessen Nachbarländern, konnte man sich nach der Hochwasserkatastrophe vom August über die große Hilfsbereitschaft zahlreicher in- und ausländischer Mitbürger freuen. Der Rückgang im Tourismus hingegen belastet das Land wiederum finanziell sehr stark. Langsam aber kehren die Gäste nach Tschechien zurück. Und das zu Recht. Denn Beeinträchtigungen gibt es hier so gut wie keine mehr. Hören Sie mehr im folgenden Bericht von Gerald Schubert.
Ein Wirtschaftszweig, der von der Jahrhundertflut besonders betroffen war, ist zweifellos der Tourismus. Und dies aus zwei Gründen: Erstens, weil die Ursache der brancheninternen Umsatzeinbußen, also das Ausbleiben von Touristen, nicht nur unmittelbar in den überfluteten Ländern und in deren engerer Nachbarschaft zu suchen ist, sondern tatsächlich den ganzen Globus umspannt, und daher umso schwieriger in den Griff zu bekommen ist. Und daran schließt sich auch schon der zweite Grund an: In alle Ecken der Welt wurden die Bilder der Flutkatastrophe übertragen. In der visuellen Vorstellung der Menschen leben diese Bilder nun weiter. Viele verknüpfen das Urlaubsziel Tschechien wohl nach wie vor mit Gefahr - oder wenigstens mit der Beeinträchtigung positiver Erlebnisse, welche man sich von einem sorgfältig geplanten oder auch kurzfristig angetretenen Urlaub gemeinhin erwartet. Gerade in einer Branche, die so stark von psychologischen Faktoren abhängt, ist dieser Mechanismus katastrophal. Denn die Bilder von vor einem Monat entsprechen längst nicht mehr der Realität, tatsächlich von den Hochwasserfolgen bedroht ist hier niemand, und auch das, was Besucher gemeinhin in die goldene Stadt Prag oder an andere Destinationen Tschechiens lockt, ist zum allergrößten Teil wieder in vollem Umfang zugänglich oder war gar nicht erst unmittelbar betroffen.
Versuchen wir aber zunächst eine Bilanzierung der Schäden im Tourismusbereich. Ich habe dazu Frau Nora Dolanska, die Marketingdirektorin der "Tschechischen Zentrale für Tourismus", um eine vorläufige Einschätzung gebeten:
"Niemand weiß, wie viele Touristen wirklich nicht gekommen sind, und wie viele Touristen kommen wollten und dann doch gesagt haben, dass sie den Termin ein bisschen verschieben werden. Wir wissen nur, dass jetzt im September ungefähr 50 Prozent weniger Touristen nach Prag und in die bedeutendsten Orte der Tschechischen Republik gekommen sind. Wie sich die ganze Situation in den nächsten Monaten wieder ändern wird, das weiß wirklich nur der, der eine große Glaskugel hat, aber wir schätzen, dass die Leute Ende des Jahres wieder langsam zurückkommen werden. Denn wie Sie sehen: Alle Menschen bemühen sich unwahrscheinlich, dass jetzt die Möglichkeiten für Touristen wieder neu geöffnet sind, geputzt sind, und die Leute haben wirklich viele Möglichkeiten, in der Tschechischen Republik etwas sehen zu können."
Im September waren es also bisher um fünfzig Prozent weniger Touristen als normalerweise. In welchem zahlenmäßigen Kontext ist dies nun zu sehen? Auch wenn Frau Dolanska darauf hinwies, dass die tatsächlichen Umsatzeinbußen einstweilen kaum zu beziffern sind, gibt es natürlich bereits vorsichtige Schätzungen. Um bis zu eine Million weniger Besucher könnten es in der Tschechischen Republik heuer insgesamt werden, so die Firma Mag Consulting, die sich auf die Analyse des Tourismus-Marktes spezialisiert hat. In finanzieller Hinsicht bedeutet das, dass die direkten Umsatzeinbußen im Tourismusbereich bis zu 7 Milliarden Kronen, das sind etwa 230 Millionen Euro, betragen könnten. Und der Devisenausfall, der durch das Fernbleiben der Touristen insgesamt entsteht, könnte sogar bis zu 17 Milliarden Kronen, also 570 Millionen Euro ausmachen.
Dabei sind die eigentlichen Schäden, die direkt in Hotels und Pensionen zu verzeichnen waren, gar nicht so groß, wie man vielleicht annehmen könnte. Nora Dolanska:
"Man muss sagen, dass Objekte wie Restaurants oder Hotels, die wirklich total kaputt sind oder bei denen die Reparatur noch eine lange Zeit dauern wird, nur ungefähr zwei Prozent aus dem ganzen Arrangement von Hotels in der Tschechischen Republik ausmachen. Die Schäden hier sind also nicht so groß, wie man immer sagt."Die meisten Gastronomiebetriebe haben also längst wieder ihre Pforten geöffnet, wenn sie denn überhaupt wegen des Hochwassers schließen mussten. Und, wie eingangs bereits erwähnt: auch fast alle Touristenattraktionen zeigen sich mittlerweile wieder in altem Glanz. Warum also kommen viele Touristen bereits wieder hierher, andere hingegen, wie es sich in den zuvor genannten Zahlen wiederspiegelt, noch nicht? Frau Dolanska begründet dies mit der starken emotionalen Komponente, die dem Phänomen Tourismus zugrunde liegt:
"Selbstverständlich ist Tourismus auch eine sehr psychologische Sache. Die Leute, die reisen, oder reisen möchten, die sind zu nichts gezwungen. Das bedeutet, dass wenn ich irgendwohin fahren möchte, dann möchte ich ein gemütliches Gefühl haben, das Gefühl, dass ich etwas Gutes erlebe, dass ich eine schöne Sache sehen werde. Und selbstverständlich, wenn ich eine Nachricht bekomme, dass etwas kleines schon nicht in Ordnung ist, dann nehme ich das größer wahr, als es wahrscheinlich ist. Und dann sage ich, Vorsicht, dorthin fahre ich nicht. Das spielt eine ganz große Rolle. Auf der anderen Seite muss ich sagen: Ich glaube, dass zur Zeit - und das nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt - Tourismus ein Lebensgefühl ist. Ohne Reisen kann man zur Zeit schon nicht mehr leben."
Neben den klassischen Urlaubsreisen, auf denen die eben angesprochene emotionale Komponente bestimmt eine besonders große Rolle spielt, gibt es aber noch andere Formen des Tourismus. So zum Beispiel die allseits beliebten Klassenfahrten vor allem deutscher oder österreichischer Schüler nach Prag. Auch hier waren Einbußen zu verzeichnen, und auch hier normalisiert sich die Lage allmählich, wenn auch noch nicht in vollem Umfang. Auf dem Prager Wenzelsplatz konnte ich eine Gruppe deutscher Schüler dazu befragen, ob es anfangs Zweifel bezüglich der Reise gegeben hätte:
"Es war eigentlich klar, dass wir jetzt hier her kommen. Bloß ob wir auch noch nach Theresienstadt fahren, war zunächst noch offen. Aber dort fahren wir heute auch noch hin. Und sonst: Irgendwie beeinträchtigt waren wir bis jetzt eigentlich nicht. Bis jetzt haben wir eigentlich alles von dem mitbekommen, was wir machen wollten."
Ein anderer wichtiger Punkt, der über das Wohlbefinden am jeweiligen Aufenthaltsort entscheidet, ist zweifellos auch die Mobilität vor Ort. Auch darüber habe ich mit den jungen Leuten gesprochen:
"Ihr habt gesagt, ihr konntet bis jetzt alles sehen, was ihr sehen wolltet. Wie ist das zum Beispiel mit dem öffentlichen Verkehr? Kommt ihr gut mit der U-Bahn in die Stadt, oder ist das für euch irgendwie unübersichtlich?"
"Ja, der Fußweg zur U-Bahn ist nicht weit, und die U-Bahn fährt dann direkt in die Stadt. Wir müssen also nur ein Stückchen laufen. Nur, das ist dann halt auch die Endstation, weil die U-Bahn bisher noch nicht weiter fährt. Aber beeinträchtigt hat es uns nicht."Und tatsächlich: Das Prager Zentrum ist überaus kompakt. An dieses heran kommt man mit der U-Bahn bereits gut, und im innerstädtischen Bereich selbst, in Moldaunähe, dort wo die Linien auf einigen Abschnitten noch gesperrt sind, bewegt man sich ohnehin am besten - und meist auch liebsten - zu Fuß durch die Gässchen.
Wenn man auf einem dieser Spaziergänge, etwa von der Karlsbrücke in Richtung Altstädter Ring gehend, rechts in die Liliova-Gasse einbiegt, dann kommt man nach wenigen hundert Metern auf den sehr zentral gelegenen und doch eigentümlich verschwiegenen Betlemske namesti, den Bethlehem-Platz. Dort steht das kleine Hotel Betlem Club, das nach der Überflutung eine Woche lang geschlossen war, weil das Wasser im Keller stand, nun aber wieder geöffnet ist. Ich habe mich an der Rezeption erkundigt, wie die Situation für dieses Hotel ganz konkret aussieht. Kommen die Touristen wieder, und wenn ja, welche Eindrücke haben sie? Es gäbe zwar noch nicht die übliche Auslastung, aber:
"Wenn die Touristen kommen, dann sind sie zufrieden, und sie sagen, dass es hier sehr schön ist. Und dass vom Hochwasser gar nichts mehr zu erkennen ist. Viele fragen sogar, wie das damals mit dem Wasser eigentlich genau war."
Bestimmt ist es ein gutes Zeichen für den Zustand der Stadt Prag, wenn vielerorts die Spuren der Katastrophe bereits nicht mehr zu erkennen sind. Das Wasser seinerseits war hier ohnehin immer eher ein Touristenmagnet, genaugenommen die Moldau, die das Stadtbild Prags und den Charakter vieler anderer Gebiete des Landes so markant prägt, und auch in der Kunstgeschichte des Landes eine bedeutende Rolle spielt. Nicht nur die vielen Baudenkmäler sind damit gemeint, die sich an die Ufer des Flusses schmiegen, sondern natürlich auch Smetanas symphonische Dichtung "Die Moldau", die hier nun wieder aufgeführt werden kann, ohne gleich Assoziationen mit der Überschwemmung hervorzurufen, die zwar für viele Tschechen eine persönliche Katastrophe bedeutete, dem Fremdenverkehr aber, auch gerade deshalb, nun kein Hindernis mehr sein sollte.
Aber nicht nur Bedrich Smetanas weltberühmte "Moldau", sozusagen die inoffizielle Hymne der Tschechen, kann man hier vielerorts hören, sondern auch über der Moldau wird wieder musiziert, mitten auf der wunderschönen Karlsbrücke, auf die jetzt wieder die Musiker, die Kunsthandwerker und glücklicherweise auch viele Touristen zurückgekehrt sind.