110 Jahre Lidove Noviny
Auf eine 110jährige, bewegte Geschichte blickten im Dezember die Lidove Noviny, zu Deutsch Volkszeitung. Damit gehört das Blatt zwar heute zu den ältesten tschechischen Tageszeitungen, doch die erste war es bei weitem nicht. Diese erschien bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Die Revolution von 1848 brachte dann den ersten, allerdings recht kurzen Zeitungsboom in den Böhmischen Ländern. Ende des 19. Jahrhunderts erstarkte das tschechische Nationalbewusstsein. Die von den Tschechen erhobenen politischen Forderungen mussten irgendwie publik gemacht werden und so entstanden in jenen Jahren Dutzende neuer Zeitungen - eine von ihnen waren 1893 auch die im mährischen Brno-Brünn erscheinenden Lidove Noviny.
Die Entstehung der politischen tschechischen Tagespresse ist eng mit dem Namen Karel Havlicek Borovskys verbunden. Noch heute trägt ein Journalistenpreis den Namen dieses Literaten, Politikers und Revolutionärs. Karel Havlicek Borovsky war erstmals 1846 Chefredakteur einer Zeitung. Zwischen 1848 und 1850 gab er dann die Narodni Noviny - Nationalzeitung - heraus. Aufgabe einer Tageszeitung war laut Havlicek Borovsky "das Volk national zu erziehen und ihm das Bewusstsein seiner bürgerlichen Rechte einzuimpfen." Es scheint, dass dies Karel Havlicek Borovsky allzu gut schaffte, denn 1851 wurde er von der Wiener Regierung wegen seiner politischen Ansichten in die Verbannung geschickt.
Während der Revolution von 1848 hatten die Tschechen ihre politischen Forderungen auch in Zeitungen geäußert. Kein Wunder also, dass diese nach der Niederschlagung der Revolution von der Wiener Regierung nach und nach verboten bzw. eingestellt wurden. Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis eine neue tschechische Zeitung entstand. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts lockerte sich die politische Lage in der Habsburger Monarchie. Damals nahm auch das politische Selbstbewusstsein der Tschechen wieder zu. Und mit diesem der Wunsch, politische Forderungen u.a. in Zeitungen zu äußern. Und so entstanden nach 1860 erneut Tageszeitungen. 1861 erblickten die Narodni Listy- Nationalen Blätter - das Licht der Welt, die Organ der damals bedeutendsten tschechischen Partei, der Nationalpartei waren.
In den 1880er und 1890er Jahren kam es dann zu einem regelrechten Zeitungsboom in den Böhmischen Ländern: 65 politische Zeitungen erblickten damals das Licht der Welt. Die meisten standen einer der gerade entstehenden Parteien nahe - den Sozialdemokraten, Nationalisten, der Gewerbepartei oder den Agrariern. Als die Lidove Noviny 1893 erstmals in Brno-Brünn erschienen, waren sie Sprachrohr der mährischen Volkspartei.
In der ersten tschechoslowakischen Republik erschien nach 1918 eine Unzahl an Tageszeitungen - so gut wie alle waren Parteiorgane. Die Tradition ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert wurde beibehalten und nur eine kleine Anzahl von Zeitungen bezeichnete sich als überparteilich. Zu diesen so genannten unabhängigen Zeitungen zählten sich auch die Lidove Noviny - doch diese Bezeichnung hat einen Haken:
Der Gründer dieser in der ersten Republik größten überregionalen und überparteilichen Zeitung, Adolf Stransky, war Mitglied der Nationaldemokratischen Partei und als solches auch Minister in der ersten tschechoslowakischen Regierung 1918. Auch sein Sohn und Nachfolger, Jaroslav Stransky, war parteipolitisch tätig. Trotzdem konnten die Lidove Noviny ihren Ruf als unparteilich erhalten.
Im Verlauf der 20er Jahre wurden die Lidove Noviny zu einer Art Institution: Wer etwas von sich hielt, der las diese Zeitung, die als Sprachrohr der so genannten Burg-Gruppe um Präsident Tomas Masaryk galt. Für die Lidove Noviny schrieben die bekanntesten Intellektuellen jener Zeit. Zu den Redakteuren zählten auch die Schriftsteller Karel Capek und Karel Polacek. Ihren Ruf als Zeitung der Intellektuellen behielt die Zeitung bis 1939. Niemals ließ sie sich auf Boulevard-Themen ein. Die Lidove Noviny gehörten zu den wenigen in Prag vertriebenen Zeitungen, die dort nicht herausgegeben wurden. Die ursprüngliche Redaktion in Brünn verlor aber mit der Zeit an Bedeutung gegenüber der Prager. Dies lag wohl auch an der Popularität der Prager Redakteure. 1936 kaufte der Besitzer der Zeitung, Jaroslav Stransky das Verlagshaus Topic in der Narodni- der Nationalstrasse in Prag, in dem auch die Prager Redaktion der Zeitung ihr Zuhause fand. Diese äußerst angesehene Adresse gegenüber dem Nationaltheater ist ein Beweis für die Bedeutung, die die Lidove Noviny in der Zwischenkriegszeit hatten.
Die Geschichte der tschechischen Zeitungen spiegelt die Geschichte des Landes wider. Nach der Errichtung des Protektorats wurden die Zeitungen entweder verboten, wurden arisiert oder sie bekamen eine neue, mit den Deutschen kollaborierende Leitung. Auch die Lidove Noviny erlitten dieses Schicksal. Viele ihrer Redakteure wurden wegen ihrer politischen Einstellung verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. Viele überlebten den Krieg nicht. Der ehemalige Chefredakteur Karel Klima kam im Konzentrationslager um, ebenso der Schriftsteller und Redakteur Karel Polacek. Der Maler und Illustrator Josef Capek starb auf einem der Todesmärsche im April 1945.
Im April 1945 war die Zeitung eingestellt worden. Nach der Befreiung der Tschechoslowakei im Mai 1945 kam auch der Wunsch auf, die Lidove Noviny erneut in ihrem alten Glanz wieder entstehen zu lassen. Ihre Mitarbeiter kehrten aus KZs und dem Exil zurück, doch es dauerte einige Wochen, bis die Erlaubnis zur Herausgabe der Zeitung kam. Doch das Leben der wieder erscheinenden unparteiischen Zeitung war nur von kurzer Dauer - so wie das der Demokratie in der Nachkriegstschechoslowakei. Die Kommunisten weiteten zielbewusst ihren Einfluss aus. Im Februar 1948 übernahmen sie endgültig die Macht im Lande. Eine der Folgen war die Übernahme der Presse. Der Chefredakteur der Lidove Noviny, Ferdinand Peroutka wurde gleich im Februar 1948 entlassen und durch einen Kommunisten ersetzt. Die Lidove Noviny erschienen zwar noch bis 1952, doch von ihrem Image als überparteiliches, intellektuelles Blatt merkte man nichts mehr. In ihr waren ebensolche Lobeshymnen auf die Kommunisten abgedruckt, wie in den anderen offiziell erscheinenden Zeitungen.
1987 entstand die Idee, eine regelmäßig erscheinende Zeitung im Samisdat, im Untergrund also, herauszugeben. Man einigte sich darauf, dass diese Zeitung an die Tradition der Lidove Noviny anknüpfen sollte und so entschied man sich dafür, dass sie auch diesen Namen erhalten sollte. Im Januar 1988 erschien die erste Nummer dieser Lidove Noviny mit einem Grußwort von Vaclav Havel. Die Zeitung erschien über ein Jahr lang mehr oder weiniger regelmäßig trotz aller Probleme mit dem herrschenden Regime. Immer wieder wurden ihre Mitarbeiter verhaftet.
Im November 1989 erschienen zwei Sondernummern über das Geschehen der samtenen Revolution. Am 5. Januar 1990 erschien dann die erste legale Nummer der Lidove Noviny nach 1952, seit April 1990 sind die Lidove Noviny wieder eine Tageszeitung. Bis heute hat die Zeitung überlebt, im Gegensatz zu vielen anderen, die nach 1989 erschienen waren und ein mehr oder weniger langes Leben hatten. Nur einige Zeitungen konnten sich halten, u.a. die Lidovky, wie sie volkstümlich genannt werden, auch wenn sich ihr Besitzer einige Male geändert hat.