Arbeitslosigkeit: Prekäre Arbeitsplätze in Tschechien
Ein Arbeitsloser bekommt seit Jahresbeginn in Tschechien in den ersten drei Monaten seiner Arbeitslosigkeit die Hälfte seines letzten Nettogehalts ausgezahlt, danach noch 45 Prozent. Rund 520 000 Tschechen waren im Mai ohne Arbeit, das entspricht knapp 10 Prozent der Erwerbsfähigen. 59 Prozent von ihnen sind Langzeitarbeitslose. Neben einer 'neuen Armut' beobachten Experten die Umwertung klassischer Arbeitsverhältnisse. Für die Sendereihe "Forum Gesellschaft" berichtet Daniel Satra.
"Seit jüngster Zeit beobachten wir in Tschechien einen neuen Armutstypus, wir nennen ihn 'neue Armut'. Es handelt sich um eine Form der Armut, die mit dem Problem der Arbeitslosigkeit zusammenhängt. In Tschechien haben 80 Prozent der Familien vor allem deswegen Probleme, weil eines der Familienmitglieder arbeitslos ist. Das Phänomen Armut beginnt sich also mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit zu verbinden."
Der Statistik zufolge sind gegenwärtige knapp 10 Prozent aller erwerbsfähigen Tschechen arbeitslos. Das ist jeder Neunte. Zugleich beobachten die Sozialwissenschaftler ein weiteres Phänomen auf dem tschechischen Arbeitsmarkt: Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses greift auch in der Tschechischen Republik um sich. Grundlage dafür ist nach Ansicht von Arbeitsmarktexperten vor allem die hohe Arbeitslosigkeit. Menschen nehmen demnach oft jede Arbeit an - egal was kommt, und egal ob sie kranken- oder sozialversichert sind, egal ob sie einen Kündigungsschutz haben oder tariflich festgelegte Löhne erhalten. Die häufige Folge: Arbeit gibt es nur auf Abruf, Beschäftige haben keine Möglichkeit auf das Arbeitsverhältnis Einfluss zu nehmen, es fehlen Schutzbestimmungen, und die niedrigen Einkommen treiben Beschäftigte oft nah an die Armutsgrenze. Arbeitsrechtlich ist das in den meisten Fällen sogar legal, sagt Kotíková. Denn das tschechische Arbeitsrecht kennt viele Lücken, wie Unternehmer, die Angestellte suchen, eine Normalanstellung mit hohen Lohnnebenkosten umgehen können: Geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, abhängige Selbständigkeit. Die Arbeitsplätze, die dabei entstehen sind prekär, sagt Kotiková:"Es handelt sich um Arbeitsverpflichtungen, die Angestellte nur unzureichend schützen. Arbeitgeber sehen sich unter Druck, was Steuern und was Lohnnebenkosten für Arbeitskräfte angeht. Und auch im Fall einer Kündigung gibt es arbeitsrechtliche Pflichten auf Seiten der Arbeitgeber, die Angestellte schützen. Der Arbeitgeber versucht all dies natürlich zu umgehen. Dafür nutz er die so genannten prekären Arbeitsverpflichtungen, bei denen er nur geringe Abgaben und keine Kranken- und Sozialversicherung zahlen muss. Und zu all dem kommt noch, dass der Arbeitgeber Steuervergünstigungen bekommt."
Ein verlockendes Angebot von Vater Staat könnte man meinen. Vor allem im Baugewerbe verzeichnen die Arbeitsmarktexperten den Anstieg einer besonderen Methode - des so genannten "Svarc-Systems": Ein Unternehmer stellt einen anderen Unternehmer an, einen Selbständigen, der auf Gewerbescheinbasis arbeitet. Dieser ist dann selbst für seine Abgaben zuständig und der Arbeitgeber ist aus dem Schneider. Benannt ist das "Svarc-System" nicht etwa nach dem nahe liegenden Sachverhalt "Schwarzarbeit", sondern nach einem tschechischen Unternehmer "Svarc", der als erster diese Möglichkeit nutzte um seine Lohnnebenkosten zu drücken. Ein anderer Trick tschechischer Arbeitgeber: Ein Angestellter bekommt einen Vertrag für sechs Monate. Nach sechs Monaten bekommt er einen neuen Vertrag, wiederum für den Zeitraum von sechs Monaten - also genau die Zeit, die in Tschechien als Probezeit gilt. Eine Zeit also, in der Angestellte fristlos und ohne Angabe von Gründen gekündigt werden können. Doch wer lässt sich auf ein solches Arbeitsverhältnis ein? Jaromíra Kotíková:"In der Tschechischen Republik gibt es Risikogruppen, die als gefährdet gelten in prekäre Arbeitsverhältnisse abzurutschen. Zu diesen Personen zählen gesundheitlich eingeschränkte Menschen, ältere Menschen und niedrig qualifizierte Arbeitskräfte: Hinzu kommt eine spezifische Gruppe, die Hochschulabsolventen. Und auch wenn sie in ihrer Erwerbsbiographie keine Arbeitslosigkeit haben, besteht bei ihnen das Problem in mangelnder Berufserfahrung."
Uni-Abgänger sind jedoch mittelfristig vermittelbar, sagt Kotíková. Hoffnungslos wird es vor allem bei den Arbeitssuchenden, die mehrere Nachteile auf sich vereinen. Menschen, die zuvor in niedrig qualifizierten Berufen gearbeitet haben, die jenseits der 40 sind und zudem noch gesundheitlich angeschlagen sind. Unvermittelbar, ist sich die Expertin sicher. Eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, so die Europäische Union, sei ein Baustein, um Arbeitslosigkeit zu begegnen. Obschon Flexibilisierung in vielen Fällen gerade Prekarisierung bedeutet, kann ein Fall flexiblerer Arbeitsverhältnisse als positives Beispiel dienen, sagt Kotíková:"Zum Beispiel sind Teilzeitbeschäftigungen für Frauen mit Kindern, die ihr Familienleben mit einem Arbeitsplatz verzahnen wollen, eine wunderbare Angelegenheit. Wie Studien aus dem Ausland belegen, hängt das Nutzen von Teilzeitstellen sehr von der Wirtschaftsituation in den einzelnen Ländern ab. Reichere Staaten können auf ihren Arbeitsmärkten bis zu 30 Prozent Teilzeitstellen anbieten. In den Niederlanden liegt die Zahl sogar über 40 Prozent. Auf der anderen Seite der Skala stehen Spanien, Italien, Portugal, die - wie Tschechien auch - nur wenige Teilzeitstellen anbieten."
Parallel zur Arbeitslosigkeit ist ein System der Schwarzarbeit in Tschechien entstanden. Schwarzarbeiter beziehen weiterhin Arbeitslosen- oder Sozialhilfe und führen keine Lohnsteuer ab. Diejenigen, die sie anstellen, sparen nicht nur Lohnnebenkosten, sie müssen bei Kündigung auch keine Abfindungszahlungen fürchten. Ein Grund dafür, warum sich in Tschechien Arbeitslose oft nicht aktiv um einen Arbeitsplatz bemühen ist laut Experten der geringe Unterschied von Mindestlohn und Sozialhilfe. Noch im Sommer soll daher ein reformiertes Arbeitsrecht in Kraft treten. Vorgesehen ist, dass Arbeitsämter stärker kontrollieren, ob ein arbeitslos Gemeldeter Arbeitsplatzangebote ausschlägt. Zudem sollen die Behörden intensiver gegen Schwarzarbeit vorgehen. Eine weitere Neuerung: Arbeitslose dürfen neben ihrem Arbeitslosengeld Einkünfte bis 3350 Kronen (rund 100 Euro) monatlich haben, jedoch nicht mehr als 20 Stunden pro Woche arbeiten. Wer jedoch länger als ein Jahr arbeitslos ist, ist zu gemeinnützigen Arbeiten verpflichtet - weigert sich der Arbeitslose, wird ihm die Stütze gestrichen. Zuckerbrot und Peitsche nennt das die Tageszeitung "Mlada fronta dnes". Ein eher kleines Zuckerbrot, und eine eher große Peitsche, meinen viele. Ob der geplante Umgang mit Arbeitslosen und die von der EU angestrebte Flexibilisierung das Problem lösen können, wird zu einem großen Teil von der Arbeitsmarktstrategie der neuen Regierung abhängen.