Exkurs in die Erste Republik, Inspirationen für die Gegenwart

Villa Tugendhat

Herzlich willkommen nun bei Radio Prag zum Sonderprogramm anlässlich des tschechischen Staatsfeiertages. Auf den Tag 86 Jahre sind vergangen, seit am 28. Oktober 1918 die Erste tschechoslowakische Republik gegründet wurde. Die zwei kurzen, aber in vielerlei Hinsicht äußerst fruchtbaren Jahrzehnte, die auf die Staatsgründung folgten, sind im historischen Bewusstsein vieler Tschechen bis heute als eine Art "verlorenes Paradies" verankert. Eines der sichtbarsten Vermächtnisse jener Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist ohne Zweifel die moderne Architektur, die noch immer das Gesicht vieler tschechischer Städte prägt - häufig in einer eigenartigen Symbiose mit den Folgen kommunistischen Bauwahns. Um die Rolle der Architektur in der Ersten Republik, um kommunistische Städteplanung und den heutigen Umgang mit diesem Erbe geht es im ersten Teil dieses Sonderprogramms, den Silja Schultheis für Sie gestaltet hat. Im zweiten Teil lädt Jitka Mladkova Sie nach Zatec/Saaz ein. Doch zunächst zur Architektur - hören Sie dazu den folgenden Beitrag von Silja Schultheis:

Josip Plecnik
Es war sicherlich kein Zufall, dass die Feiern zum 10. Gründungstag der Ersten tschechoslowakischen Republik im Oktober 1928 einer international beachteten Schau tschechischer Avantgarde-Architektur gleichkamen. Der Präsident persönlich, Tomas Garrigue Masaryk, sah in der Baukunst die adäquate Ausdrucksform für die demokratischen Werte der jungen Republik und demonstrierte diese Devise an seinem eigenen Amtssitz: Die Prager Burg solle von einem monarchistisch konzipierten Bauwerk in ein demokratisches umgestaltet werden, vermerkte Masaryk 1925 in seinem Testament. Den Auftrag für dieses ambitionierte Unterfangen erteilte der Präsident bereits 1920 dem slowenischen Architekten Josip Plecnik, einem Vorreiter des modernen Bauens, Schülers von Otto Wagner in Wien und Kollegen von Jan Kotera. Die Baukunst habe in der Ersten Republik zweifelsohne eine sehr exponierte Stellung genossen, erinnert der Architekturhistoriker Zdenek Lukes:

"In der Zwischenkriegszeit zählte die Tschechoslowakei weltweit zu den fortschrittlichsten Ländern, in der jungen Demokratie herrschte ein sehr produktives Klima und ausgezeichnete politische Bedingungen für modernes, avantgardistisches Bauen - im Unterschied etwa zu Deutschland, Russland oder Italien."

Villa Tugendhat  (Foto: Jana Sustova)
Das moderne Bauen der Zwischenkriegszeit prägt bis heute das Gesicht vieler Städte und industrieller Zentren in Tschechien. Früher und konsequenter als anderswo in der Welt wurde in der Tschechoslowakei neue Sachlichkeit gebaut, Mitte der 1920er Jahre hielten hier die damals bedeutendsten Architekten der Welt Vorlesungen: Le Corbusier, Walter Gropius, Theo van Doesburg und der im mährischen Brno/Brünn geborene Adolf Loos. Brünn entwickelte sich schnell zu einem der wichtigsten Zentren des funktionalistischen Baustils und seiner führenden Vertreter: Bohuslav Fuchs und Jaromir Krejcar. Die 1928 von Mies van der Rohe erbaute Villa Tugendhat, die inzwischen zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt, ist unter vielen anderen Beispielen für progressives Bauen nur das prominenteste.

Ebenso wie anderswo in Europa war eines der zentralen städtebaulichen Probleme für die tschechoslowakischen Architekten der Zwischenkriegszeit die Wohnungsfrage. 1928 wurde im mährischen Brno/Brünn die Werkbundsiedlung Novy dum/ Neues Haus gebaut, die von der Ausrichtung her an die Stuttgarter Weissenhofsiedlung von 1927 anknüpfte und auf exemplarische Weise Lösungen für das Wohnen des modernen Großstadtmenschen demonstrieren wollte. Neben den Inspirationen der 1910er bis 1930er Jahre sehen sich heutige Baukünstler in Tschechien jedoch auch auf Schritt und Tritt mit dem architektonischen Erbe des Kommunismus konfrontiert - und dazu zählen in erster Linie die allgegenwärtigen, oft stark sanierungsbedürftigen Plattenbauten - die wohl problematischste Hinterlassenschaft kommunistischer Baupolitik, meint der Architekturhistoriker Zdenek Lukes:

"Es lässt sich heute in der Tat nur schwer eine Stadt oder ein Ort finden, wo nicht mindestens ein Plattenbau steht. Diese Häuser haben vor allem eine Reihe technischer Mängel, sie sind nicht isoliert, das gesamte Netz (Rohre etc.) ist in sehr schlechtem Zustand, kurz: die Plattenbauten müssen saniert werden. Diese Sanierung ist unglaublich kostspielig und nicht in allen Regionen ist das Geld dafür da. Dieser Prozess wird noch viele Jahre dauern und es ist schade, dass erst vergleichsweise spät damit begonnen wurde. Sicherlich wird es hier noch große Probleme geben."

Mehr als ein Drittel der tschechischen Haushalte wohnt in Plattenbausiedlungen
Bis heute wohnt laut der Zeitschrift Tyden mehr als ein Drittel der tschechischen Haushalte in Plattenbausiedlungen, deren Beliebtheit sich wohl in erster Linie durch die billigen Mieten, die soziale Infrastruktur und die gute Anbindung an das städtische Verkehrsnetz erklären lässt. Doch ungeachtet dieser Faktoren gerät die "Platte" in Tschechien zunehmend aus der Mode und gibt es bereits eine Art Nachfolge-Modell für sie, beobachtet der auch international renommierte Architekt Josef Pleskot:

"Wer es ein bisschen zu etwas gebracht hat, zieht aus seiner Plattenbauwohnung in eines der Einfamilienhäuser, die an den Stadträndern in ganzen Kolonien heranwachsen. Im Grunde also von einem kollektiven Wohnen ins nächste, wie mir scheint. Mit dem einzigen Unterschied, dass das Leben im Einfamilienhaus vielleicht einen gewissen Komfort mit sich bringt: Garage, Garten, Schwimmbad. Aber ob das wirklich ein Schritt nach vorne ist, was die Wohnqualität anbelangt, würde ich bezweifeln."

Mit Wohnqualität, so Pleskot, verbänden die meisten Tschechen heute leider ausschließlich das Leben in den eigenen vier Wände - die Gestaltung des öffentlichen Raumes sei sowohl im Bewusstsein der Menschen als auch in den Entwürfen zeitgenössischer Architekten ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt. Ein Grund dafür ist sicherlich der, dass in den Jahrzehnten des Kommunismus "Öffentlicher Raum" als Wert an sich durch Massenkundgebungen und monumentale Denkmäler nachhaltig diskreditiert war und viele Tschechen den öffentlichen Raum auch heute noch als Bereich empfinden, der mit ihren privaten Interessen kaum Berührungspunkte hat. Folge davon, so der Architekt Josef Pleskot, sei eine allgemeine Verwahrlosung des Stadtbildes, wie man sie heute in vielen tschechischen Städten beobachten könne:

"Ich denke, das kann man sich fast an jedem x-beliebigen Platz vor Augen führen. In seinen einzelnen Komponenten - Häusern, Geschäften, Fußwegen, Grünflächen, Papierkörben usw. - ist der Raum wenig aufeinander abgestimmt, die Öffentlichkeit weiß nicht, wie sie ihn nutzen soll. Es herrscht einfach Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit, eine Art allgemeine Leere."

Ein typisch postkommunistisches Syndrom - oder doch eher tschechische Mentalität? Josef Pleskot ist sich nicht ganz sicher:

"Das ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich spielt beides zusammen. In jedem Fall wird in Tschechien anders mit dem öffentlichen Raum umgegangen als etwa in Frankreich oder Italien, wo sich das urbane Leben einfach viel mehr auf der Straße abspielt. Das ist ärgerlich, dass wir in der Gestaltung des öffentlichen Raumes so schwach sind, denn in anderen Bereichen der Architektur haben wir durchaus etwas vorzuweisen."

Zwar verlagert sich auch in tschechischen Städten das Leben zunehmend nach draußen und stellen immer mehr Cafes und Kneipen Tische auf die Bürgersteige; dennoch ziehen viele Tschechen nach wie vor dieselbe strikte Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Raum wie zu kommunistischen Zeiten, als die eigenen vier Wände der einzige Ort des Rückzugs vor dem allgegenwärtigen Staat waren. Bis heute, so Josef Pleskot, könne man beobachten, dass die peinliche Ordnung der Tschechen ganz genau bis zur Türschwelle des eigenen Hauses reiche - und keinen Meter weiter:

"Bereits der Gehweg vor dem eigenen Haus, die Straße ist sehr häufig in ziemlich verwahrlostem Zustand. Das ist schlecht, denn wir engen uns selbst ein, wenn wir als unseren Lebensraum allein die eigene Wohnung begreifen. Wir sollten umgekehrt Interesse daran haben, diesen Lebensraum möglichst weit zu fassen und auch Parks, Straßen, die gesamte Umgebung mit einzubeziehen."

Einzubeziehen ist zwangsläufig auch hier wieder das Erbe des Kommunismus - darunter die fatalen Auswirkungen einer Verkehrspolitik, die nicht am Menschen orientiert war. Im Umgang mit diesem negativen Vermächtnis, so der Architektur-Historiker Zdenek Lukes, täten die Tschechen gut daran, sich auf ihre moderne, vorausschauende Verkehrsplanung der 20er Jahre zu besinnen. So sei bereits 1925 eine Ringstraße um Prag in Planung gewesen - ein Projekt, das heute aktueller denn je erscheint, wo der Durchgangsverkehr im Prager Stadtzentrum immer unerträglicher wird und zunehmend an der Bausubstanz historischer Gebäude nagt.

"Schon damals wusste man, dass der Durchgangsverkehr umgeleitet werden muss. Statt dessen bauten die Kommunisten die Nord-Süd-Magistrale quer durch Prag. Das war ein großer Fehler. Man hätte längst eine Umgehung bauen müssen. Aber das ist bis heute (noch) nicht geschehen."

Künftige Städteplaner und Architekten in Tschechien stehen also vor der anspruchsvollen Aufgabe, zwischen der tschechoslowakischen Moderne und den Bausünden des Kommunismus zu vermitteln, so dass die Rückkehr des verlorenen öffentlichen Raumes und mit ihm einer städtischen Öffentlichkeit hoffentlich nur eine Frage der Zeit sein wird.