Prager Gymnasiasten und das Wendejahr ´89 - das Leben davor kennen sie nur vom Hörensagen
Soweit Lothar Martin, der mit Zeitzeugen der Ereignisse vor 15 Jahren gesprochen hat. Im Hinblick darauf, wie viel Euphorie damals den politischen Umbruch in der damaligen Tschechoslowakei begleitet hat, kann man heute, 15 Jahre danach, nicht übersehen, dass die Lust der Menschen, sich an die historischen Ereignisse des Wendejahres zu erinnern, stark nachgelassen hat. Umso mehr streiten sich die Geister darüber, ob die so genannte sanfte bzw. samtene Revolution nicht zu sanft und samten war. Neben Zufriedenheit waltet nämlich auch Enttäuschung. Vielleicht waren wir naiv, sagen einige, vielleicht waren unsere Vorstellungen über die Zukunft übertrieben. Kurzum, die Erwartungen vieler sind, aus welchem Grund auch immer, nicht in Erfüllung gegangen, und wie anderswo gibt es auch hierzulande die Gewinner und solche, die sich für die Verlierer halten. Die Generation der heute Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen zählt sich aber wohl kaum zu letzteren. Sie wurden erst in und sozusagen für die neue Zeit geboren. Die alte kennen sie nur aus dem Hörensagen. Mit einigen Jugendlichen hat sich Jitka Mladkova zu einem Gespräch getroffen:
Vor 15 Jahren, als in Tschechien, aber auch in Ungarn und der damaligen DDR Geschichte gemacht wurde, waren Jan Hrudka, Jiri Kocian, petr Lamac, Vaclav Sajdl und Jakub Svehla noch klein. 15 Jahre - keine lange Zeit, aber fast ihr ganzes Leben. Informationen über die Zeit davor hat ihnen, wie sich zeigt, in erster Linie die Familie vermittelt.
"Da ich damals drei Jahre alt war, kann ich mich kaum daran erinnern, wie es vor 1989 ausgesehen hatte. Das Leben unserer Familie ist damit zwar nicht total umgekrempelt worden, doch mit Anbruch der neuen Zeit ist alles leichter und erreichbarer geworden. Zu Hause habe ich nie irgendwelche abwertenden Erinnerungen an frühere Zeiten gehört. Klar, alles entschied damals die Regierung und das herrschende Regime hatte Einfluss auf alles, aber wie gesagt: Nie habe ich zu hören bekommen, es sei das schlimmste gewesen, was es je in der Welt gab. Jetzt ist es aber selbstverständlich besser."
Ein weiterer Schüler fügt gleich hinzu:
"Ich bin auch nicht um so viel älter, dass ich hier die Weisheit vor mich hinstreuen könnte. Mehr oder weniger geht es darum, wie man älter geworden ist und die Gesellschaft wahrzunehmen begann. Mit zehn etwa fängt man an, sich ein bisschen umzuschauen. Da gab es hierzulande schon Kapitalismus und Demokratie. Heute aber, 15 Jahre nach der Wende, ist eine gewisse Erstarrung nicht zu übersehen. Viele Leute suchen nach Sicherheiten, die sie früher hatten, z.B. in Bezug auf Arbeit, als sie sich den Kopf nicht so sehr über ihre Arbeitsleistung zerbrechen mussten. Das vermissen noch viele. Man sieht, dass der Sozialismus die Denkweise vieler Menschen stark geprägt hat. In dieser Hinsicht ist man in Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg schon viel weiter und ich hoffe, dass es bei uns nicht sechzig Jahre dauern wird. Aber noch zehn oder zwanzig Jahre ganz bestimmt, bis sich auch bei uns die Meinungslage ändern wird."
Aktivität versus Passivität - so der alte Gegensatz des Lebens in allen Zeiten. Wie sehen es die Teenies von heute? Und so frage ich: Finden sie es richtig, dass es keine allmächtige Partei oder eine Regierung als höchste Macht gibt, um alles im Leben der Bürger zu managen? Meine Gesprächspartner vom Prager GG-Gymnasium, die schon in diesem Schuljahr ihrer Reifeprüfung entgegen sehen, scheinen über diese Frage im Klaren zu sein:
"Meiner Meinung nach ist es so in Ordnung und es ist auch nichts Besonderes daran. Wenn man in die Vergangenheit zurückschaut, auch 6000 Jahre zurück, dann sieht man, dass es immer so war. Ohne eigene Bemühungen konnte man nichts erreichen. Der größte Unterschied und zugleich das Wichtigste, was sich für uns verändert hat, ist die Lebensweise. So, wie man heute lebt, wie wir unsere Jugend erleben und auch weiter leben werden, das ist ein Leben in Kulturfreiheit. Für mich persönlich etwa stellen Film, Musik und Kunst den absolut wichtigsten Bestandteil meiner Freizeit. Für mich ist es eine unerträgliche Vorstellung, dass ich die Musik, die mir gefällt, nicht hören oder die Bücher, die ich mag, nicht lesen dürfte. Das ist, glaube ich, das größte Plus daran, was sich verändert hat. Das ist das wichtigste, damit sich eine Nation kulturell weiter entwickeln kann."
Ja, die Eltern dieser angehenden Abiturienten haben ihren Kindern erzählt, welche Filme, welche Kunst, welche Bücher und Theaterstücke und welche Musik anhand welcher Kriterien das Gütesiegel der "richtigen" Kultur in der Zeit des "realen Sozialismus" tragen durften. Doch nicht alle Menschen litten vor allem unter der eingeschränkten Kulturfreiheit, die die Jugendlichen heutzutage so selbstverständlich genießen. Zum sozialistischen Alltag und seiner Vetternwirtschaft gehörten auch Sorgen rein materieller Art. Wer von den jungen Männern, frage ich, kann sich vorstellen, dass man Schlange stehen musste, um dies und jenes für den täglichen Bedarf zu ergattern? Toilettenpapier, Schuhe, zu Weihnachten Mandarinen, Bananen und Nüsse oder das ganze Jahr hindurch das Fleisch und vieles mehr?"Ja, schon. Auch wenn wir das nur vom Hörensagen kennen. Gott sei Dank ist es vorbei. Auch in dieser Hinsicht bedeutete der 17.November ´89 einen Durchbruch. Es gibt immer noch Leute, die die Partei von früher zurückhaben möchten, weil sie einen festen Boden für sie darstellte. Aber ich glaube, mit unserer Generation oder mit der, die nach uns kommt, könnte es sich schon ändern. D.h. mit Menschen, denen von klein auf beigebracht wird, dass man sich nicht darauf verlassen kann, auf Kosten des Staates leben zu können."
Wer weiß, wie viele der Hunderttausende von Menschen, die auf den Demos im November 1989 ihre Schlüssel klingeln ließen und damit eine neue Zeit nach ihrer Vorstellung einzuläuten glaubten, auch daran gedacht haben, was sich alles in ihrem Leben verändern wird. Man sah hoffnungsvoll der Zukunft entgegen und wollte so schnell wie möglich das verhasste kommunistische Regime für alle Zeiten in die Hölle schicken. Nach fünfzehn Jahren hat aber die Ostalgiepartei der tschechischen Kommunisten bei den Regionalwahlen im diesjährigen November als zweit- bzw. drittstärkste Partei abgeschnitten. Haben die Tschechen so schnell vergessen, frage ich noch einmal die jungen Gymnasiasten, und kriege eine nur anscheinend widersprüchliche Antwort:
"Viele Leute haben ganz bestimmt alte Zeiten nicht vergessen. Ein Teil von ihnen war zufrieden. Man hatte eine Dreizimmerwohnung im Plattenbau, warmes Wasser, einen Skoda und einen sicheren Arbeitsplatz in einem unrentablen Betrieb. Dies ist aber heute nicht mehr möglich. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen Menschen nicht besonders gefällt, deshalb warten sie, was ihnen der Staat servieren wird. Nachdem es lange Jahre so funktioniert hatte, sieht man nun, welche Folgen es hat."
Soweit die Meinungen einiger tschechischer Schüler, die 15 Jahre nach der Wende vor dem Abitur stehen. Auch sie wollen, wie viele ihrer Kommilitonen, weiter studieren und dann ihre Lebensziele ansteuern. Mit welchem Erfolg? Das wird erst die Zeit zeigen. Mit ihrer Generation dürfte sich aber tatsächlich vieles ändern - zum Besseren, versteht sich. Davon jedenfalls sind sie fest überzeugt.