Der tschechische Surrealismus der 30er Jahre wird neu entdeckt
Auf langen Stelzen durch die Wüste steigende Elefanten oder Krücken, die eine zerrinnende Maske mühevoll stützen: Die surrealistischen Bilder Salvador Dalís sind vielen ein Begriff. Dass es auch in Tschechien schon seit den 30er Jahren eine bedeutende surrealistische Strömung gab, ist in Vergessenheit geraten. Erst kürzlich rief der Prager Verlag TORST diese Geschichte wieder ins Gedächtnis und gab eine Neuauflage tschechoslowakischer surrealistischer Magazine der 30er Jahre heraus, die der Kunsthistoriker Karel Srp um wissenschaftliche Studien ergänzte. Unsere freie Mitarbeiterin Karin Rolle befragte Karel Srp zu den Anfängen des Surrealismus in Tschechien.
"Ich bin gewillt, eine neue Zeitschrift herauszugeben, nicht aus äußeren Gründen, sondern aus dem Bedürfnis, Uneingeweihten systematisch den Blick auf das rechte Wesen tieferer Schichten der Psyche zu öffnen, der Schichten, aus denen das künstlerische Schaffen entspringt.", so der tschechische Schriftsteller Víteszlav Nezval im Jahr 1930. Die Worte leiteten die erste Ausgabe der von ihm veröffentlichen surrealistischen Monatszeitschrift Zverokruh / Tierkreis ein. Nezvals Bemühungen, mit dieser Zeitschrift der surrealistischen Strömung in der Tschechoslowakei eine Plattform zu bieten, sind in Vergessenheit geraten. Denn der tschechische Surrealismus war eine oppositionelle Strömung, die von den beiden totalitären Systemen in der Tschechoslowakei ab 1939 unterdrückt wurde, wie es der Kunsthistoriker, Karel Srp, beschreibt:
"Der Surrealismus war grundsätzlich gegen die Linie der Kommunistischen Partei und deren Vorstellung von Kunst. Das bedeutete jedoch, dass der Surrealismus ab 1948 auf dem Index verbotener Kunst stand. Aber damit hatten die Surrealisten schon Erfahrung. Denn auf dem Index standen sie schon seit dem Jahr 1939. Sie arbeiteten jedoch im Untergrund weiter."
Erst seit den 1990er Jahren rücken die Anfänge des tschechischen Surrealismus wieder in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Eine bedeutende Rolle in diesem Prozess spielt der Prager Verlag TORST, der sich um die Neuauflage zahlreicher Publikationen der 1920er und 1930er Jahre verdient gemacht hat.
Kürzlich erschien ein Sammelband, der alle fünf surrealistischen Zeitschriften der 1930er Jahre neu verlegt. Zu ihnen gehören zwei Ausgaben des schon erwähnten Magazins Zverokruh, die Revue Surrealismus in der Tschechoslowakei, das Internationale Bulletin des Surrealismus und die Zeitschrift Surrealismus. Wie folgenreich die tschechoslowakischen, surrealistischen Magazine waren, erklärt der Kunsthistoriker Karel Srp:
"Wie breit das Schaffen der Surrealisten war, zeigt der Fakt, dass das Internationale Bulletin des Surrealismus aus dem Jahre 1936 die Tradition begründete, surrealistische Zeitschriften in ganz Europa herauszugeben. Wo auch immer in Europa neue Gruppen auftraten, gaben sie weitere Nummern des Internationalen Bulletin des Surrealismus heraus, eine zum Beispiel bei einer Ausstellung auf Teneriffa, eine weitere in Brüssel, die letzte in England, genauer in London."
Der von TORST herausgegebene Band dokumentiert nicht nur die Existenz des Surrealismus in der Tschechoslowakei, sondern zeichnet zugleich die internen Auseinandersetzungen und Veränderungen der künstlerischen Strömung nach. Und diese waren zahlreich. In den 20er Jahren beispielsweise belächelte man in der Tschechoslowakei die Bemühungen der französischen Surrealisten, wie die André Bretons. Er gehörte zu den wichtigsten und bekanntesten Vertretern der von Frankreich ausgehenden Bewegung und verfasste mehrere Manifeste. In ihnen beschrieb er unter anderem die Verwendung des Begriffs "Sur-realismus", also des "Über - realismus". Der Begriff suggeriert, der Surrealismus habe seinen Ort über der Realität, also einen Ort in einer anderen Dimension. Diese Dimension liegt jedoch nicht im Jenseits, sondern mitten in der Welt, die eine breitere Fülle zu bieten hat als das tägliche zweckrationalistische Denken. Um zu dieser Fülle Zugang zu bekommen, nutzte man den Traum. Er bot Vorstellungsbilder des Unbegreiflichen und Rätselhaften. Gegen die so inspirierten Vorstellungen und Darstellungsweisen der französischen Surrealisten wehrte sich anfangs die tschechische Avantgarde, so Karel Srp:
"Wir müssen uns daran erinnern, dass es in Tschechien eine sehr starke Strömung des Poetismus gab, die Anfang der 20er Jahre die Avantgarde beeinflusste. Im Rahmen des Poetismus entstand zum Beispiel die Kunstrichtung des Artifizialismus, wie sie der bildende Künstler Jindrich Styrsky oder die Künstlerin Toyen vertraten. Die Bewegung war als Opposition gegen etablierte Auffassungen gedacht, auch gegen den Surrealismus. Man lehnte die surrealistische und abstrakte Kunst ab, wie es Styrsky in verschiedenen Manifesten ausdrückte. Später dann, in den Jahren 1927 bis 1929 begann der Surrealismus langsam unbewusst ihre Werke zu durchdringen."
Anfang der 30er Jahre begannen verschiedene Protagonisten in der Tschechoslowakei, sich dem Surrealismus anzunähern. Die bedeutendsten unter ihnen sind die eben genannten bildenden Künstler Jindrich Styrsky und seine Lebensgefährtin Toyen, mit eigentlichem Namen Marie Cerminová, der Schriftsteller Vitezlav Nezval und der führende Theoretiker, Maler und Buchgrafiker Karel Teige. Den Annäherungsprozess beschreibt der Kunsthistoriker Karel Srp wie folgt:
"Schritt für Schritt näherte man sich gemeinsam dem Surrealismus. Die schrittweise Annäherung gipfelte 1934 in der Gründung der Gruppe der Surrealisten in der Tschechoslowakei und dem Besuch André Bretons und Paul Eluards im Jahre 1935. Es war die meistgefeierte Auslandsreise der beiden. Die surrealistische Gruppe in der Tschechoslowakei bereitete für sie eine reiches Programm vor. In Prag entdeckten sie gemeinsam verschiedenste Antiquariate, danach reisten sie nach Karlovy Vary / Karlsbad, um dann weiter nach Brno/Brünn zu fahren. Dort nahm André Breton im Brünner Rundfunk einen wichtigen Vortrag über den Surrealismus auf. Dies ist eine der ältesten Aufzeichnungen der Stimme André Bretons, die überhaupt überliefert ist. Ich habe in einigen ausländischen Archiven geforscht, aber mir gelang es nicht, eine ältere Aufnahme zu finden. Mag sein, dass eine existiert, aber ich habe sie nicht entdeckt. Denn alle bekannten Aufnahmen der Stimme Bretons sind in der Nachkriegszeit, also den 50er und 60er Jahren entstanden."
Die Gruppe der Surrealisten in der Tschechoslowakei initiierte nach ihrer Gründung im Jahre 1934 zwei bedeutende Ausstellungen in den Jahren 1935 und 1938, dem Jahr, in dem eine neue Figur zur Surrealistengruppe stieß: Jindrich Heisler. Die Ausstellungen zeigten vor allem Werke von Styrsky und Toyen. Toyens Beiträge beeindruckten durch ihre Gestaltung von beklemmenden Situationen. Angst ist eines der Hauptthemen ihrer Bilder. In dem Werk "Die gefährliche Stunde" füllt ein Adler mit roten Augen das gesamte Bild aus. Aus den Flügeln wachsen menschliche Hände, die auf eine mit Glassplittern bewehrte Mauer greifen. Toyen nahm die Zwischentöne auf, vielleicht eine "Über-realität", die allzu schnell zur traurigen Wirklichkeit werden sollte. 1939 erhielt Toyen Ausstellungsverbot. Ihr Lebensgefährte Jindrich Styrsky verstarb im Jahr 1942. Während der nationalsozialistischen Besatzung versteckte Toyen Jindrich Heisler. Mit ihm emigrierte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Paris, wo sie bis 1980 lebte.
Surrealistische Gruppen wirkten auch in den darauffolgenden Jahrzehnten im tschechoslowakischen Untergrund fort und spiegelten in ihren Werken die gespannte Atmosphäre des totalitären Staates. Die Wurzeln der tschechoslowakischen, surrealistischen Strömung wiederzuentdecken, half eben der Verlag TORST mit seiner Neuauflage der surrealistischen Magazine der 30er Jahre. Eine limitierte Auflage des Sammelbandes enthält außerdem den im Jahr 1935 im Brünner Studio aufgenommenen Vortrag André Bretons. Der Kunsthistoriker Karel Srp ergänzte den Band mit einer umfassenden historischen Studie. Noch eine letzte Frage an Karel Srp: Sind diese Anfänge des tschechischen Surrealismus auch über die nationalen Grenzen hinaus bekannt?
"Toyen hatte natürlich auch Ausstellungen in Frankreich, und ich denke, dass auch bald in Deutschland eine Ausstellung über Toyen stattfinden wird."